Ich bin einzigartig: Wie ich mit "Ehrlichem Mitteilen" in friedlichen Kontakt zu mir selbst und anderen komme
Wie hängen Nervensystem und Wohlbefinden zusammen?
In den letzten 30 Jahren sind markante Anstiege bei Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates, psychosomatischen Erkrankungen, Depressionen, Schlafstörungen, Angststörungen und Süchten zu verzeichnen. Dies wirft erstens die Frage auf, wodurch diese Belastungen zustande kommen und zweitens, wie individuell gegengesteuert werden kann. Sorgen, Ängste, Druck und vielfache äußere Belastungen im Alltag sowie innere Faktoren, wie unbewusst gewordene Prägungen und Verhaltensmuster, wirken sich auf unser psychisches und physisches Wohlbefinden aus. Bewegung und Ernährung auf körperlicher Ebene sowie die Art unserer Beziehungen zu anderen Menschen auf sozialer Ebene sind zentrale Elemente, die sich unmittelbar positiv oder negativ auf unsere Gesundheit auswirken, indem sie für Stress und Belastungen oder ein positives, entspanntes Lebensgefühl sorgen.
Der Schlüssel zu unserem Wohlbefinden ist ein funktionierendes, autonomes Nervensystem, das An- und Entspannungsprozesse in allen Körpersystemen regulieren kann. Kann das Nervensystem Stress und Dauerbelastungen nicht mehr ausgleichen, führt das unweigerlich zu körperlichen und psychischen Symptomen und auch Krankheiten.
Das autonome Nervensystem reguliert unser Wohlbefinden
Der Vagusnerv (der „Umherschweifende“) ist therapeutisch derzeit in aller Munde. Als zehnter Hirnnerv und Führungsnerv des Parasympathikus (weitestgehend für Entspannung und Regeneration zuständig) zieht er mit zwei Ästen bis in den Bauchraum und transportiert dabei Informationen vom Gehirn in die Peripherie und auch ins Gehirn zurück.
Aus der Forschung weiß man heute, dass der Vagusnerv zentrale und weitreichende Bedeutung für unsere Gesundheit hat, da er autonome Prozesse im Körper, aber auch unsere Kontaktfähigkeit und Kommunikation beeinflusst, also für unser soziales Leben wichtig ist. Er hat einen direkten, beruhigenden Einfluss auf unser Herz-Kreislaufsystem, die Atmung, die Verdauung, die Muskulatur, auf Schmerzempfindungen, er beeinflusst alle körperlichen und geistigen regenerativen Prozesse, reduziert Stress, ist an Lernprozessen im Gehirn beteiligt und verbessert Hirnleistungen wie Kreativität und Gedächtnis, das unter Stress schwer zugänglich ist.
Die Vagus-Meditation - Entspannung für das autonome Nervensystem
Um mit alltäglichen Belastungen und Stress zurechtzukommen, sich zu entspannen, die Stimmung aufzuhellen und sich wieder leistungsfähiger zu fühlen, also den Vagusnerv zu stimulieren, eignen sich Übungen aus der „Vagus-Meditation“1. Es handelt sich um eine Methode, die durch Anregung mehrerer Hirnnerven eine komplexe, körperlich und psychisch entspannende Wirkung über den Vagusnerv bewirkt. Hier eine Auswahl:
Pausen zelebrieren mit den drei S
Mehrmals täglich, empfohlen ist es sogar alle 2 Stunden, für 2 bis 3 Minuten die Augen schließen. Ruhig in den Bauch einatmen, beim Ausatmen wie eine Katze schnurren oder eine Melodie summen, singen oder die Vokale a, o, u, tönen. Diese versetzen den Brustraum besonders gut in Schwingung. Die Wirkung kann durch Imaginationen verstärkt werden, indem man sich Situationen in Erinnerung ruft, die mit schönen Gefühlen verbunden sind.
Augenkino
Aus dem Fenster oder in Richtung einer Lichtquelle schauen, die Augen schließen und die Lider von innen fixieren. Eine Zeitlang die auftretenden Farben und „fliegenden Mücken“ im Augenwasser betrachten.
Doppelbilder
Zeigefinger an die Nasenspitze führen und dort hinschauen. Den Zeigefinger von der Nase wegführen, bis man bei gleichzeitiger Betrachtung von Nasenspitze und Zeigefinger ein Doppelbild sieht. Steigerung: mit den Augen das Doppelbild mit Achtertouren umkreisen. Mit Übung kann man mit dieser Methode auch ein Bild an der Wand verdoppeln und dabei Achtertouren machen.
Die Qualität von Bindung und Beziehung prägt unser Nervensystem
Wie in unserer Umwelt brauchen wir auch Sicherheit in unseren sozialen Beziehungen, um uns wohl zu fühlen. Haben wir in unserer sozialen Entwicklung immer wieder erlebt, nicht akzeptiert zu werden, wie wir sind, wurden abgelehnt, ständig kritisiert oder waren im schlimmsten Fall schwerwiegenden Einflüssen wie emotionaler oder physischer Gewalt ausgesetzt, stuft unser Nervensystem die Umwelt und Beziehungen zu anderen Menschen permanent als nicht sicher ein.
Die erlebten Verletzungen seelischer Grundbedürfnisse und die damals erlittenen Schmerzen werden oftmals auf Kosten von Lebensfreude, Lebendigkeit und angelegten Potentialen bewältigt und ausgehalten. Das limbische System, das „Reptiliengehirn“, in dem Sinnesreize bewertet, weitergeschaltet und verknüpft werden, steuert unser Gedächtnis und unsere Emotionen sowie Handlungsmuster, befindet sich in einem der Reaktionsmodi auf Gefahr: Flucht, Kampf oder Starre. Das bedeutet Dauerstress für das Nervenkostüm. Wir halten an zumeist längst nicht mehr dienlichen und notwendigen Bewältigungstrategien, Überzeugungen und Ängsten aus der Vergangenheit fest, verharren in Abwehrverhalten, um die damaligen schmerzlichen Gefühle nicht mehr fühlen zu müssen.
Die gute Nachricht lautet: Das Gehirn ist bis ins hohe Alter umbaufähig. Es sind also zu jedem Zeitpunkt im Leben Veränderungen möglich, sofern man die Anstrengung auf sich nehmen kann und will.
Das Gehirn ist bis in hohe Alter umbaufähig!
Das «Ehrliche Mitteilen» - eine tiefgreifende Methode zur Regulation
Eine sehr hilfreiche Methode, die auf der Ebene unserer Beziehungs- und Bindungserfahrungen eine nachhaltige und tiefgreifende Veränderung bewirken kann, ist das «Ehrliche Mitteilen» (EM) nach Norbert Gopal Klein2. Dem «Ehrlichen Mitteilen» liegt das Wissen zugrunde, dass unsere gesamten Erfahrungen aus unserer Sozialisation in unserem Nervensystem als Muster, Glaubenssätze, Verhaltensstrategien, etc. … „eingespeichert“ sind, die unsere Körperempfindungen und Gefühle, unser Denken und Sozialverhalten beeinflussen.
«Ehrliches Mitteilen» ist eine Methode zur Selbsthilfe mit festgelegtem Ablauf. Es ist eine Achtsamkeitspraxis, eine Möglichkeit, sich von der Identifizierung mit seinen Empfindungen, Gefühlen und Gedanken in einem sicheren Rahmen zu lösen. Wir können jederzeit wahrnehmen und beobachten, was wir spüren, fühlen und denken. Dazu hat das menschliche Gehirn eine (vermutlich) einzigartige Fähigkeit unter den Säugetieren entwickelt, das Selbst-Bewusstsein. Wir verfügen über einen „inneren Beobachter“, der ohne Bewertung wahrnehmen und beschreiben kann, was gerade in uns vorgeht.
Gleich ausprobieren:
- Was spüren Sie genau jetzt im Körper?
- Was ist da im Moment für ein Gefühl?
- Was für einen Gedanken denkt der Kopf gerade?
«Ehrliches Mitteilen» als soziale Meditation - ein Weg zu einem entspannten Nervensystem
«Ehrliches Mitteilen» hilft uns, in Kontakt mit uns selbst zu gehen und tiefe, nährende Verbindungen zu anderen Menschen zu erleben. «Ehrliches Mitteilen» ist eine neue Qualität der Kommunikation miteinander. Indem jemand ehrlich seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen mitteilt, fällt es schwer, diese Person als feindlich, vorwurfsvoll oder bedrohlich für sich selbst zu erleben. Der*die Mitteilende erlebt, dass er*sie endlich sagen darf, was in ihm*ihr vorgeht, ohne dass es zu Angriffen, Bewertungen oder Kritik an der eigenen Person kommt. «Ehrliches Mitteilen» richtig praktiziert, kann also zur Auflösung der unbewussten Ängste, Verteidigungshaltungen und Abwehrmechanismen beitragen, die wir über die Jahre entwickelt haben.
Wir werden kompetenter darin, mit uns selbst und mit anderen Menschen in ausgeglichenem, entspanntem, friedlichem Kontakt und wohltuenden, förderlichen Beziehungen zu sein.
Praktische Anwendung
Suchen Sie sich eine vertraute Person und schlagen Sie ihr vor, miteinander «Ehrliches Mitteilen» zu praktizieren.
Wir neigen dazu, „Geschichten“ über uns zu erzählen und mit Geschichten zu antworten. Beim ehrlichen Mitteilen spricht man in einem festgelegten Rahmen präzise über den Inhalt der drei Wahrnehmungsebenen Körper, Gefühle, Gedanken. Teilen Sie in kurzen, unkomplizierten Sätzen mit, was im Moment in Ihnen vorgeht:
- In meinem Körper spüre ich …
- Da ist ein Gefühl von…
- Mein Kopf denkt, (dass)…/ In meinem Kopf ist der Gedanke, (dass) …
Es ist gerade zu Beginn sehr wichtig, sich genau an die vorgeschlagenen Floskeln zu halten, damit die Methode funktioniert.
Regeln für «Ehrliches Mitteilen» zu zweit
- Treffen Sie sich mit einer zweiten Person regelmäßig, um ehrliches Mitteilen zu praktizieren.
- Vereinbaren Sie eine Zeit für das Mitteilen, z. B. 5 bis 10 Minuten pro Person. Vor dem Wechseln eventuell eine kurze Pause vereinbaren.
- Teilen Sie mit den vorgeschlagenen Satzanfängen ihre momentanen Empfindungen, Gefühle und Gedanken mit. Es ist dabei sehr wichtig, auch Ihre Grenzen zu wahren, wenn Sie nichts mehr mitteilen möchten.
- Das jeweilige Gegenüber spricht nicht, hört nur aufmerksam zu.
- Dann ist die andere Person mit dem Mitteilen an der Reihe.
- Zu keinem Zeitpunkt soll über die Inhalte des Mitgeteilten miteinander gesprochen werden. Es gibt keine Rückfragen, Kommentare oder Bewertungen. Nur so ist es möglich, die heilsame Erfahrung zu machen, dass alle Mitteilungen über die inneren Vorgänge und Wahrnehmungen einfach sein und geäußert werden dürfen und in Ordnung sind.
Wer sich eingehender mit «Ehrlichem Mitteilen» beschäftigen möchte, findet auf der Internetseite von Gopal Norbert Klein sehr viele Informationen und Materialien zu EM. Es gibt auch bereits vielerorts Gruppen, die sich zum ehrlichen Mitteilen treffen oder man kann selbst Gruppen als Selbsthilfegruppen aufbauen.
Literaturangaben
1 Schnack, Gerd, Schnack-Iorio Birgit: Die Vagus-Meditation. Der Entspannungsnerv: Wie Sie ihn aktivieren und damit Stress reduzieren. Trias Verlag, Stuttgart 2021
2 Klein, Gopal Norbert: Der Vagus-Schlüssel zur Traumaheilung, Wie »Ehrliches Mitteilen« unser Nervensystem reguliert. Gräfe und Unzer, München 2022
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