
Gefühle begleiten uns ständig
Gefühle begleiten uns ständig – in jeder Situation, jeden Tag. Wir schätzen die positiven Emotionen, während wir die negativen oft lieber vermeiden würden. Doch gerade diese negativen Gefühle sind wichtig, um die positiven besser wahrzunehmen und zu genießen.
Hugo Kükelhaus vergleicht das Leben und Emotionen mit einem Pendel:
Es braucht das Schwingen auf beide Seiten, um in Bewegung zu bleiben. Läuft es schlecht, dann hilft es zu wissen, dass das Pendel nicht stehen bleiben kann, sondern wieder zurückschwingen muss. Läuft es gut, schätzen wir die positiven Momente in dem Wissen, dass auch die andere Seite wiederkommt.
Bewegung und Veränderung sind wichtig für uns. Im Laufe unseres Lebens lernen wir, mit unseren Gefühlen umzugehen. Kinder erfahren zuerst, wie sich ihre Gefühle anfühlen, bevor sie den Umgang mit ihnen lernen. Als Erwachsene sind wir Vorbilder – wir können zeigen, wie wir unsere Emotionen leben und ausdrücken.
Im pädagogischen Bildungsalltag sind die Aufgaben vielfältig. Die emotionale Entwicklung und Bildung im Blick zu behalten, ist nicht immer einfach. Immer wieder liest man die Aufforderung, dass ein wertschätzender Umgang und gute Umgangsformen Aufgabe der Familien sind. Aber was, wenn in Famlien kein gutes Vorbild da ist, wenn bestimmte Verhaltensmuster immer weiter gegeben werden und sich dadurch eine negative Spirale entwickelt?
Dr. Karlheinz Brisch betont, dass es darum geht, negative Spiralen zu durchbrechen und stärkende Gefühle weiterzugeben. Das von ihm in der Bindungsforschung initiierte Projekt „Babywatching“ hat mir viel über den Umgang mit Gefühlen gelehrt. Fragen wie „Was siehst du?” oder „Was denkst du, was fühlt diese Person?” und „Wie würdest du dich fühlen, wenn du an dieser Stelle wärst?“ haben mich seit diesem Projekt im pädagogischen Alltag begleitet.

Ich sehe dich
Bei meiner Arbeit in der Kinderkrippe hat es ein paar Situationen gegeben, in denen ich davon profitieren konnte. Diese Momente waren für mich prägend und ich erzähle sie gerne:
Die rote Treppe
In der Kinderkrippe sah ich, wie ein Mädchen eine rote Wesco-Treppe (Schaumstofftreppe mit drei Stufen) hinunterstieg. Der Untergrund war leicht wackelig. Es gab keinen Handlauf zum Festhalten und von oben nach unten zu gehen, war nicht immer einfach. Auch wenn die ganze Aktion nur von hinten gesehen habe, nahm ich wahr, wie konzentriert und in einer positiven Anspannung das Mädchen war. Als es mit beiden Beinen am sicheren Boden angekommen war, habe ich zur ihr gesagt:
„Ich habe gesehen, wie du die roten Treppen hinuntergestiegen bist. Das war nicht so leicht, dann das Gehen auf den Stufen kann sich wackelig anfühlen. Jetzt bist du gut und sicher unten angekommen.“
Das Mädchen hat sich nicht umgedreht. Aber an ihrer Körperhaltung konnte ich sehen, wie stolz sie auf ihre Leistung war. Und wie gut es ihr getan hat, dass ihre Leistung gesehen und angesprochen wurde.
Ich sehe dich
Durch diese Beobachtungen und durch das Ansprechen des Gesehen habe ich gemerkt, wie wichtig es den Kindern, in ihrem Tun gesehen zu werden.
„Ich sehe, du bist auf der Sprossenwand weit hinaufgeklettert!“ oder „Ich sehe, wie viel Spaß dir das Schaukeln macht!“
So haben die Kinder mich und meine Kollegin oft gerufen mit „Steffi, schau!“, „Elke schau!“, damit uns ja nichts von Erfolgen und positiven Erlebnissen entgeht. Durch diese Erfahrungen habe ich verstanden, warum Maria Montessori mit dem Loben eher zurückhaltend war. Für mich hat sich ein neuer Weg abseits von Lob und Tadeln aufgetan.
Natürlich hat es Momente gegeben, die angesprochen werden mussten. Da hat es hat gereicht zu sagen: „Ich habe gesehen, du hast Lukas das Auto weggenommen.“ Die Stimme war nicht laut, nicht streng, nicht verärgert – einfach normal. Und die Formulierung hat auch mir geholfen, dass meine Emotionen nicht zu groß werden.
Die Puppe mit den schönen blonden Haaren
Es gab einen Streit zwischen zwei Mädchen in der Kinderkrippe um eine Puppe mit schönem, blondem Haar. Gesehen habe ich den Streit leider nicht, aber das Ende habe ich gehört. Und dieses Streitende war sehr laut.
Ein Mädchen, nennen wir sie Lisa, hat ihre Puppe – eben die mit den schönen blonden Haaren, mit in die Kinderkrippe gebracht. Einem anderen Mädchen, nennen wir sie Claudia, hat die Puppe auch sehr gut gefallen und wollte so gerne mit der Puppe spielen. Eine Erschwerung für Claudia war, dass ihre Sprachentwicklung noch nicht so weit war, dass sie hätte fragen können. In einem Moment, als die Puppe von Lisa unbeobachtet war, hat Claudia sie einfach genommen. Der Schreck bei Lisa war groß und nicht zu überhören, denn ihre Stimme war in diesem Moment hoch und schrill. Die Gemüter der beiden waren reichlich erhitzt und beide Mädchen hatten einen hochroten Kopf.
Für die Kinder war es eine hochemotionale Situation– und es ging ja um etwas sehr Wichtiges und mir sind viele Fragen gleichzeitig durch den Kopf gegangen: Was tun? Mit wem rede ich zuerst? Wie kann der Konflikt gelöst werden?
Meine Entscheidung in diesem Moment war so:
Zuerst habe ich mich um Lisa, die Puppenmutter, gekümmert. Ihr ging es schon wieder besser, als sie ihre Puppe in der Hand hielt. Ich habe versucht, ihre Situation in Wort zu fassen: „Deine Puppe ist wirklich wunderschön und ich freue mich, dass du sie in die Kinderkrippe mitgebracht hast, damit wir sie alle mal sehen können. Ich kann jedes Kind verstehen, dass die Puppe auch gerne in der Hand halten will. Ich habe einen Vorschlag: Deine Puppe war jetzt schon einige Zeit bei dir im Spielzimmer. Damit du in Ruhe spielen kannst und dich nicht immer um deine Puppe sorgen musst, suche ihr doch einen feinen Platz, an dem sie auf dich warten kann: entweder auf deinem Garderobenplatz oder in deinem Bett.“ Lisa hat die Puppe zu ihrem Mittagsrastplatz gebracht. Das war ein Platz, bei dem Lisa ihre Puppe in Sicherheit wusste und sich auf sie freuen konnte.
Für Lisa war die Sache erledigt, sie hat sich sicher gefühlt, brauchte keinen Trost mehr und hat sich sogleich wieder in ihr Spiel vertieft.
Und so konnte ich mich um Claudia kümmern, sie war noch immer geknickt: keine Puppe und ein großer Streit. Bei Claudia habe ich mich bemüht sich in ihre Lage hineinzuversetzen und zu ihr gesagt: „Lisas Puppe ist wirklich wunderschön. Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich auch gerne mit ihr gespielt. Aber es ist Lisas Puppe und offensichtlich mag sie heute die Puppe nicht gerne teilen – das ist okay, denn es ihre Puppe. Wenn ich jetzt an deiner Stelle wäre, wäre ich wütend und traurig und verärgert zugleich. Magst du jetzt gerne alleine sein oder möchtest du gerne eine Umarmung haben und getröstet werden?“ Claudia hat sich von mir weggedreht und hat wütend mit einem Bein auf den Boden gestampft. „Okay“, dachte ich mir, „sie ist wütend und will jetzt wohl alleine sein.“ Zum Glück habe ich noch ein paar Momente zu Claudia geschaut, denn so habe ich gesehen, wie sie sich kurz darauf zu mir umgedreht hat und ihre Arme ausgestreckt hat. Eine Umarmung und ein paar Bilderbücher später ist Claudia von der Leseecke aufgestanden und ist wieder ihrem Spiel nachgegangen.
Das war ein emotionaler Moment im Bildungsalltag, bei dem mir viel bewusst wurde. Wenn sich zwei streiten, dann brauchen auch beide eine Begleitung durch ihre intensiven Gefühle. Für Lisa war es wichtig, dass ihre Situation und ihr Besitz anerkannt wurden. Für Claudia war es wichtig, dass sie mit all ihren Emotionen nicht alleine war. Offensichtlich brauchte sie vieles gleichzeitig: sich ärgern zu können, den Moment für sich alleine und den Trost.
Und wichtig finde ich auch, dass diese starken Gefühle einen Raum brauchen, sein dürfen und nicht mit „Brav-sein-Floskeln“ unterdrückt werden. Ebenso wichtig finde ich auch, dass Kinder so erfahren dürfen, wie sie mit allen Gefühlen umgehen können, und dass sie immer der gleich liebenswerte Mensch sind.
Kinder sollen erfahren dürfen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können, und dass sie immer der gleich liebenswerte Mensch sind.

Zeit und Kraft
Solche Momente erfordern Zeit und Kraft. Diese Zeit und Kraft zu investieren, hat sich für mich im pädagogischen Alltag schon bald sehr gut angefühlt. Das heißt nicht, dass es keine Konflikte mehr gab, aber die Stimmung war eine andere. Die Kinder konnten sich darauf verlassen, dass sie in all ihren Emotionen gesehen werden und diese ohne Bloßstellung in Worte gefasst wurden. Meine Interpretation muss nicht immer die richtige gewesen sein, deshalb hat es immer eine Rückfrage gegeben: „Habe ich das richtig gehört bzw. gesehen? Was ist dir wichtig? Was möchtest du sagen?“
Bei solch intensiven Prozessen spielen das eigene Wohlbefinden und die eigene emotionale Stabilität eine große Rolle. Work-Life-Balance, Reflexion und Supervision sind wichtig. Die berühmten und vielbesprochenen Rahmenbedingen, wie der Gruppengröße und Personalschlüssel, sind in meinen Augen ein elementarer Teil für die Begleitung von Emotionen im Bildungsalltag.
Ich konnte für mich viele wertvolle Erfahrungen machen und habe folgende Erkenntnis gewonnen: Wenn Emotionen gut begleitet werden, stärkt es den Menschen in jedem Alter und das Miteinander.
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