Wenn Wertschätzung fehlt ...

Täglich treffen in der Schule unterschiedliche Welten aufeinander: verschiedene Erziehungsstile, Kulturen, einzigartige Charaktere und pädagogische Ansätze. In diesem Spannungsfeld entsteht etwas, das der Pianist und Bildner von Führungskräften Michael Jones treffend als „Ökoton" bezeichnet – eine Übergangszone, in der Unterschiedliches aufeinandertrifft und Neues entstehen kann.
Der Schlüssel liegt in unserer Haltung: Statt andere von unserer Sichtweise überzeugen zu wollen, können wir einen Raum schaffen, in dem sich alle Beteiligten mit ihren Ideen einbringen dürfen. Dieser Raum gehört niemandem und wird von allen gemeinsam gehalten.
Meine Erfahrung zeigt: Wahre Wertschätzung beginnt damit, das Fremde verstehen zu wollen. Erst wenn wir uns Zeit nehmen, das Befremdliche zu erkunden, erschließt sich uns seine Bedeutung. Die Belohnung? Ein fruchtbares Land gemeinsamer Ideen, in dem niemand die eigene Welt aufgeben muss.

 

 

Wenn Wertschätzung fehlt ...

Wertschätzung ist ein abstrakter Begriff.
Um sie, die Wertschätzung, zu verstehen, könnten wir ihre Einzelteile analysieren.
Wert. Schätzen. Den Wert einer Person schätzen. Schätzen als Schatz, den es zu erkennen gilt, indem du ihm einen Wert beimisst.
Wir könnten sie aber auch abstrakt lassen und ihre Bedeutung durch konkrete Erlebnisse greifbar machen.
Denn meine Annahme besteht darin, dass wir etwas (oder jemanden) erst dann wertschätzen können, wenn es eine Bedeutung für uns hat.
Wie heißt es so schaurig-schön?
„Wenn Wertschätzung fehlt, dann tut es weh.”

„Wenn Wertschätzung fehlt, dann tut es weh.”

Da ich zehn Jahre meines Lebens in Ausbildung zum und dann in der Rolle als Volksschullehrer Erfahrungen im Schulbereich gesammelt habe, habe ich die Bedeutung der Lehrperson bzw. Schule aus verschiedenen Richtungen wahrnehmen dürfen.
Soweit ich weiß, sind auch viele Lesende des Magazins Aufleben Lehrpersonen (gewesen).
Somit möchte ich beginnen, meine Wertschätzung für die Arbeit der Lehrpersonen auf dieser Welt auszudrücken.

Denn sie sind es, die …

  •    … unzählbar viele Menschen auf ihrem Weg zum Erwachsensein bilden und begleiten.
  •    … unterschiedlichste Charaktere und Kulturen in Verbindung halten.
  •    … für alle Menschen da sind, die Unterstützung im Leben und im Lernen brauchen.
  •    … miterziehen und soziale Herausforderungen abfedern.
  •     … für all ihr Wirken keinen Dank erwarten.

Diese Liste lässt sich in viele Richtungen erweitern, je nachdem, wer gefragt wird und welche Bedeutung für ihn oder sie Schule hat.

Um den Wert einer Sache oder Person wirklich einzuschätzen, müssen sie mir etwas bedeuten.
Wenn sich für mich der Sinn nicht erschließt, dann kann eine Sache scheinbar noch so wichtig sein (meist aus Sicht anderer Personen, die für sich einen Wert erkennen), ich werde es nicht sehen und womöglich sogar abschätzig behandeln.
 

Wie können wir uns mehr wertschätzen?

Nun schreibe ich hier über Wertschätzung und ihr als Lesende fragt euch vielleicht: „Wie können wir uns mehr wertschätzen?”. Eine herausfordernde Frage könnte lauten: „Wie kann ich etwas scheinbar Sinnloses wertschätzen?”
Vielleicht hat für dich mein Beitrag zum Thema Wertschätzung keine Bedeutung und damit wirst du ihm auch wenig Wert beimessen. Was völlig okay wäre!
So wäre meine Bitte an dich – und vielleicht eine Art erste „Lektion”: Wende dich meinen Gedanken aufmerksam zu, bemerke, was sie mit dir machen, und erlaube dir das Entstehen völlig neuer Erkenntnisse.

Wozu brauchen wir Wertschätzung?

Beginnen wir die Reise mit der Frage: „Wozu brauchen wir Wertschätzung?”

  • Wo genau beginnen wir?
  • Bei dir selbst!
  • Was kannst du wirklich wertschätzen?
  • Womöglich eher Dinge, mit denen du positive Erfahrungen gemacht hast und die für dich sinnvoll erscheinen?
  • Was kannst du weniger wertschätzen?
  • Wahrscheinlich eher Dinge, mit denen du negative Erfahrungen gemacht hast und die für dich sinnlos erscheinen?

Lass dir gerne an dieser Stelle Zeit und denk ein paar Minuten über deine Wertschätzung nach.

Solange du den Wert einer Sache oder Person für dich selbst einschätzt, ist die Welt noch stabil.
Schwieriger wird es, wenn unterschiedliche Werteinschätzungen aufeinandertreffen.
Als Lehrpersonen seid ihr damit täglich konfrontiert. Verschiedenste Erziehungsstile, Vielfalt der Kulturen, einzigartige Charaktere, Vorgaben des Bildungsministeriums, nicht zu vergessen die unterschiedlichen pädagogischen Stile, um nur ein paar der Spannungsfelder zu benennen.

Welche Szenarien bestimmen dadurch den Schulalltag?

  • Je nach Wertschätzung der Elemente bilden sich Grüppchen von „Gleichgesinnten”
  • Manche gehen (gezwungenermaßen?) ihren eigenen Weg – Einzelgängerinnen, Außenseiter, …
  • Entweder wird über den „richtigen” Erziehungs- oder Lehrstil gestritten oder Streitigkeiten erst gar nicht begonnen – „leben und leben lassen”
  • Die Schulleitung bzw. das Schulsystem gibt vor, was welchen Wert hat und was nicht
  • Eltern tun sich zusammen und sprechen sich gegen eine Lehrperson aus

Diese Szenarien entsprechen meiner Erfahrung – wie war bzw. ist das für dich?

  • Wie weh tut fehlende Wertschätzung?
  • Was tust oder unterlässt du, damit du nicht wertgeschätzt wirst?
  • Kannst du wertschätzen, was dir fremd ist?
Bild: Qiong Wu

Der Weg beginnt bei jedem einzelnen

Wenn du dir mehr Wertschätzung wünschst, dann beginnt dieser Weg bei jeder*jedem Einzelnen, also bei dir.
Deswegen hätte ich dich gerne auf ein Gedankenexperiment eingeladen.
Deine Zustimmung nehme ich unbekannterweise entgegen, doch darfst du an dieser Stelle auch gerne aufhören zu lesen.
Was dich erwartet, ist ein Weg, wie aus dem abstrakten Namenwort „Wertschätzung” das konkrete Tunwort „wertschätzen” wird.

„Wir alle sind verantwortlich für das, was zwischen uns geschieht."
Diese Annahme soll uns auf dem Weg zu mehr Wertschätzung geleiten. Wohlwissend, dass dieser Satz keiner absoluten Wahrheit entspricht.
In diesem Satz liegt ein Schatz, den ich für mich gefunden habe. Wie du diesen Satz siehst und bewertest, liegt an deiner Einschätzung.
Mit uns beiden treffen zwei Erfahrungswelten aufeinander. In der Schule als Spiegel der Gesellschaft wären es viele Welten mehr, doch dieses Experiment sollte exemplarisch reichen.

Wieso sind wir nun beide dafür verantwortlich, was zwischen uns passiert?
Und was hat das Ganze mit Wertschätzung zu tun?
Wenn wir uns Aufmerksamkeit schenken, entsteht zwischen uns eine unsichtbare, aber spürbare Zone der Begegnung. Es fühlt sich an wie ein Spannungsfeld, das unsere beiden Erfahrungswelten in Beziehung setzt. Manche nennen es eine Knirschzone – weil es dort auch knirschen darf.

Wir wählen das Thema „Unterschiedliche Lehrstile” und wir legen nacheinander unsere Ideen in diesen mittigen Zwischenraum. Solange wir uns einig sind, ist alles gut. Doch mit der Zeit kristallisieren sich Unterschiede heraus. Würde ich nun damit beginnen, unangenehme Ideen zu kritisieren, käme das einem „Wegfegen” deiner geschätzten Pflänzchen gleich. Als Reaktion darauf würdest du auf manche meiner gepflanzten Ideen eintreten.
Ich würde daraufhin einen sehr großen Baum pflanzen – ein mächtiges Argument.
Du kommst mit ein paar gleichgesinnten Freunden zurück, sägst den Baum mit gemeinsamer Kraft um oder fügst ihm Leid zu, bis er daran eingeht.
Die Konsequenz: Wir distanzieren uns voneinander, die Mitte ist zerstört und jemand fühlt sich vielleicht als Siegerin, der andere als Verlierer.

Michael Jones, Pianist und Bildner von Führungskräften, beschreibt diesen Raum zwischen uns als ein gemeinschaftliches Feld unbegrenzter Möglichkeiten, als einen „schüchternen Segen”, der verschwindet, sobald ihn jemand betritt oder zu kontrollieren versucht.

„Der Raum dazwischen fungiert als Ökoton – eine Übergangszone, in der verschiedene Umgebungen aufeinandertreffen. Dieser Bereich verbindet unterschiedliche Gemeinschaften, Praktiken oder Denkweisen. Wie verschiedene Musiknoten, die zusammenkommen, lässt uns die Anwesenheit der einen die andere besser verstehen. Diese Überschneidungspunkte schaffen Gelegenheiten für reichhaltigen Austausch und Interaktion.”
Michael Jones

Wir sind also alle verantwortlich für das, was zwischen uns geschieht.
Nehmen wir uns die Zeit, das Befremdliche am Gegenüber zu verstehen. So erschließt sich uns auch die Bedeutung.
Plötzlich können wir Fremdes wertschätzen, weil wir jetzt sehen, was wir vorher nicht sahen. Dank eines Gegenübers, das anders ist als du.
Die Belohnung für unsere wertschätzende Haltung ist ein fruchtbares Land, das all unsere Ideen vereint, ohne dass wir die eigene Welt aufgeben müssen.

Bild: Qiong WU
Stefan Tilg
Stefan Tilg

Seit 20 Jahren beschäftigt sich Stefan Tilg mit der Frage, wie Begegnung sein soll, an der alle Menschen wahrhaftig und authentisch teilnehmen. Es ist die wertschätzende Haltung - gepaart mit dem Wunsch, wirklich verstehen zu wollen.

Mit jungen Jahren fasziniert von der gastgeberischen Kultur Japans, viel gelernt in der Welt der Art of Hosting, einen Gesprächsalon in Innsbruck (Österreich) mitgegründet, für eine ganzheitliche Schulkultur eingesetzt, 10 Jahre Erfahrung als Lehrperson, begleitet von der Weisheit aus der Erwachsenenentwicklung, die Schnabelweide begründet und Initiator wertschätzender Begegnungsräume.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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