Schreiben wirkt (1)

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Kraft und Macht von Sprache werden schon seit Jahrhunderten genutzt. Bekannt sind Zauber- und Trostsprüche, Segenswünsche, Mantras, magische Formeln, Beschwörungen, Flüche, Verwünschungen. Worte können also beides: Schaden anrichten und Wohltuendes bewirken. Nicht von ungefähr war Apollo sowohl der Gott der Heilkunst als auch der Dichtkunst. 

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Schreiben „für sich selbst“ folgt keiner einheitlichen Definition, die Begriffe für die unterschiedlichen Spielarten werden bisweilen sogar synonym verwendet. Unter „persönlichem Schreiben“ kann sowohl automatisches, assoziatives, kreatives, reflexives, autobiografisches Schreiben sowie Journaling oder Tagebuchschreiben verstanden werden. Allen gemeinsam ist, dass sie keinem hoch-literarischen Anspruch folgen (ausgenommen vielleicht die von vornherein zur Veröffentlichung bestimmten Tagebücher von Schriftsteller*innen). 

Entwicklung 

Sigmund Freud setzte das Schreiben in seiner Psychoanalyse ein, indem er seinen Patienten*innen empfahl, ein Traumtagebuch zu führen. Auch Victor Adler und C. G. Jung vertrauten solchen assoziativen Verfahren zur Selbstanalyse. 

Die Surrealisten um André Breton nutzten Anfang des vergangenen Jahrhunderts die „Écriture automatique“, um in einem Zustand des Halbschlafs, der Trance oder der Hypnose in tiefere Schichten des Bewusstseins vorzudringen. Orthografie, Grammatik und Interpunktion spielen hierbei überhaupt keine Rolle. Dies gilt auch für eine gegenwärtigere Variante dieses automatischen Schreibens: das Freewriting, das auf Peter Elbow zurückgeht. Während zehn Minuten wird einfach drauflos geschrieben, was einem gerade so durch den Kopf geht. Wichtig ist allein, den Stift in Bewegung zu halten. Eine Variante ist das Freewriting mit einem bestimmten Fokus. Bei beiden ist es sinnvoll, das Geschriebene zum Schluss durchzulesen und in einem Satz oder einem Zweizeiler zu verdichten. 

Aus den USA stammt auch der Begriff „creative writing“, das im Deutschen wortwörtlich als „kreatives Schreiben“ übersetzt wurde, obwohl es ursprünglich eine andere, nämlich essayistische Ausrichtung an Hochschulen hatte. Dort ist es fester Bestandteil des Studiums und wird als eigenes Fach angeboten, während es in Europa im universitären Bereich noch in den Kinderschuhen steckt, genauso wie Schreiben als anerkannte Therapieform. 

Vorreiter in Deutschland in Sachen Schreiben waren vor allem Lutz von Werder und Hilarion Petzold, welche die Poesie- und Bibliotherapie (weiter-)entwickelten. Das Lesen und Schreiben sind hier verbunden, indem die Kraft von Lyrik genutzt wird, sowohl als Lektüre als auch als Anregung zum eigenen Schreiben. In Österreich hat die Poesietherapie noch keine Tradition und ist nicht als therapeutische Richtung anerkannt, wiewohl manche Therapeuten*innen sie in die Heilbehandlung miteinbeziehen. 

Effekte

In einem Experiment konnte der Sozialpsychologe James W. Pennebaker bereits in den 80er Jahren die heilsame Auswirkung – wie er es nennt – expressiven Schreibens feststellen. Er forderte Studierende auf, an vier aufeinanderfolgenden Tagen 20 Minuten lang über ein belastendes Erlebnis oder ein Trauma zu schreiben. Weiteren Studien bestätigten die Ergebnisse, dass das Schreiben Körper und Psyche positiv beeinflusst, indem es beispielsweise den Blutdruck senkt, das Immunsystem stärkt und das subjektive Wohlbefinden verbessert.
Schreiben funktioniert sowohl präventiv wie auch begleitend. Unter anderem eröffnet es Denk- und Spielräume für Probehandlungen, befördert die Ausdruckfähigkeit und dient der Distanzierung. Wer schreibt, bekämpft aktiv das Gefühl der Ohnmacht und stärkt damit Selbstwirksamkeit und Selbsterfahrung. Schreiben schafft Ordnung, denn Gedankenspiralen lösen sich in lineare Sätze auf. 

Schreiben schafft Ordnung, denn Gedankenspiralen lösen sich in lineare Sätze auf.

 

Beispiele persönlichen Schreibens

Tagebuch

Geschichtlich wird sein Beginn meist angesetzt um 400 n. Chr. mit den „Confessiones“ des Mönchs und Theologen Augustinus, in denen er eine Art religiöse Selbstanalyse betrieb. Ging es zuerst hauptsächlich darum, Gott Rechenschaft abzulegen, rückt in der Renaissance das Individuum in den Mittelpunkt. Für Nordamerika sind die Tagebücher der Pionierfrauen zu nennen, aus denen sich die sog. „Mädchen-Tagebücher“ entwickelten.

Beeinflusst von der Entdeckung des Unbewussten und von den Tagebüchern der Anaïs Nin, plädiert Tristine Rainer für ein „neues“ Tagebuch, das sich entfernt vom braven Aufschreiben alltäglicher Begebenheiten. Für sie ist es ein Mittel, die verschiedenen Seiten des Selbst zu entdecken, ein geheimer Ort für sinnliches Erleben, für Wünsche, Fantasien und Ängste, womit es auch eine kathartische Funktion erfüllt. Eine Sonderform des Tagebuchs stellen die Morgenseiten nach Julia Cameron dar. Sie empfiehlt, täglich auf drei Seiten den Gedankenstrom festzuhalten. Das soll Kreativität freisetzen und zu neuen Ideen führen.

Das Tagebuch erlaubt eine große Freiheit zwischen dem Festhalten von Banalem und den großen Fragen des Lebens. Es darf fragmentarisch, unperfekt und sprunghaft sein, erzählende Elemente, Träume und Erinnerungen enthalten. In einem geschützten Rahmen ist es ein Ort des Rückzugs und der Selbstfindung, zudem bietet es die Möglichkeit der ästhetischen Gestaltung. Einen besonderen Fokus setzen Varianten wie Reise-, Lektüre, Arbeits- oder Dankestagebuch.
Ihren Wert erhalten alle Tagebücher aber erst durch die Reflexion, durch nachträgliches Lesen in bestimmten zeitlichen Abständen – je nach Schreibfrequenz. Dies kann Ziele, Entwicklungen, Verhaltens- sowie Denkmuster deutlich machen, es lässt eigene Krisen und Konflikte erkennen und besser verstehen. Zudem ist ein Tagebuch eine wertvolle Quelle für eine Autobiografie oder ein Memoir.

Autobiografisches Schreiben

Zwar enthalten Texte, die beim kreativen Schreiben entstehen, ebenfalls häufig biografische Elemente, eine Autobiografie zielt aber in erster Linie darauf ab, die eigene Lebensgeschichte oder zumindest einige Erinnerungen oder Anekdoten zu erzählen.

Die Motive dazu sind vielfältig: Oft möchten Erfahrungen und Erkenntnisse an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, um sie dem Vergessen zu entreißen. Dann kann das Bilanzziehen oder die Zeitzeugenschaft im Zentrum stehen oder ein Hinzufügen der eigenen Sichtweise. Immer handelt es sich um subjektive Erinnerungsarbeit und eine Form der Identitätsfindung, also um einen Weg, sich selbst näherzukommen. 
Manche wollen vielleicht schlimme Erlebnisse durch das Niederschreiben loswerden, denn dies kann leichter fallen als das Aussprechen – und möglicherweise vernichten sie ihre Niederschriften danach. Andere richten sich an Familienmitglieder, wieder andere denken an eine Veröffentlichung. Eine andere Möglichkeit ist es, die Biografie zu literarisieren und damit zu fiktionalisieren, sodass ein Roman daraus entsteht. Auch hinsichtlich Struktur und Gestaltung, ob mit oder ohne Bilder, mit Zeittafeln oder Zitaten etc. besteht viel Freiheit.
 

Schreiben wirkt - Teil 2

Mehr Beispiele für persönliches Schreiben und Impulse zum Ins-Schreiben-kommen, gibt es im zweiten Teil des Beitrags von Kathrine Bader Schreiben wirkt (2).

Workshop mit Kathrine Bader

Einen ganzen Werkzeugkoffer für Lehrkräfte und Jugendarbeiter*innen zum Thema Schreiben bietet Kathrine Bader am 11. April  im Haus der Begegnung in einem Workshop an.

Dialog statt Kollision – Jugendliche Anliegen ernst nehmen: Schreiben wirkt 

Schreiben wirkt! 

Viele Jugendliche sind spätestens seit Corona verunsichert und bedrückt. Etwas zu Papier zu bringen, kann zu einer Entlastung und dazu beitragen, Ordnung in die Gedanken zu bringen. Das Mittel der Wahl ist kreatives Schreiben, bei dem in assoziativen Verfahren spontane Texte entstehen.
In diesem Workshop lernen Sie verschiedene Methoden und Impulse des kreativen Schreibens kennen und probieren diese gleich selbst aus. 

Mehr Informationen zum Workshop und zur ganzen Workshopreihe "Dialog statt Kollision" gibt es hier

Kathrine Bader
Kathrine Bader Mag.

Seit 1989 ist Kathrine Bader dem kreativen Schreiben verfallen und leitet seit mehr als 20 Jahren selber Schreibwerkstätten. In ihre Arbeit fließen Biografiearbeit, Poesie- und Bibliotherapie und Schreibagogik ein. Weiters übernimmt sie Korrektorate und Lektorate und überträgt Texte in "Leichte Sprache".

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-ND.

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