Spielerisch aufleben

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„Spielen ist Dünger für das Gehirn und Kraftfutter für Kinderseelen.“, betont der viel zitierte Neurobiologe Gerald Hüther und wird nicht müde für das freie, absichtslose Spiel zu plädieren. Auch der Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster teilt diese Auffassung zur Bedeutsamkeit des Spiels. Er verweist darauf, dass bei fehlender Möglichkeit zu spielen, wichtige Reifeprozesse in der Großhirnrinde unterbunden werden. Versuche an jungen Ratten, die konsequent am Spielen gehindert wurden, zeigten infolge ein gestörtes Sozialverhalten. Wir wissen also um den Wert des Spiels für die kindliche Entwicklung. Aber welche Bedeutung hat das Spiel im Lebensalltag von uns Erwachsenen? 

stringere = anspannen

Auf der Suche nach Assoziationen zu dem herrlich leichten Wörtchen „spielerisch“ begegnen uns Begriffe wie „mühelos“, „entspannend“ aber auch „ohne Ernst“ und „infantil“. Dem Spiel scheint also tatsächlich noch „das Kindliche“ im traurigen Sinne von „nicht ernstzunehmend“ anzuhaften, es scheint noch nicht so ganz im Lebensalltag der Erwachsenen angekommen zu sein. Am ehesten können wir es noch im Kontext von Computer- und Glücksspielen aufspüren. Doch es sind Spielformen, die in Verbindung mit Freude und auch mit in Beziehung treten, stehen, von denen wir profitieren könnten, um einen Ausgleich zu den beruflichen Anforderungen und der um sich greifenden Rund-um-die-Uhr-Reizüberflutung zu schaffen. 

Das Wörtchen „Stress“, das sich aus dem lateinischen „stringere“ (anspannen) ableiten lässt, ist aktuell in aller Munde und ernährt zwischenzeitlich eine ganze Burnout-Prophylaxe-Industrie. Dabei könnten wir es uns auch auf spielerischer Weise leichter machen, indem wir auf Anspannung nicht mit noch mehr Druck und noch mehr Anspannung antworten, sondern ganz bewusst Raum für Leichtigkeit und Entspannung schaffen. 

Pendelbewegung einer alten schönen Taschenuhr

Lebensrhythmus Anspannung - Entspannung: Auf die Balance kommt es an

Auch wenn wir im 21. Jahrhundert oft darauf vergessen oder auch darauf vergessen möchten, sind wir doch immer noch auf unsere urgeschichtliche Physis, die körperliche Beschaffenheit unseres Menschseins angewiesen. So sind unsere Reaktionen auf Stress auch heute noch die gleichen, die auch unseren frühen Vorfahren das Leben sicherten. Ohne unsere Fähigkeit auf Gefahr mit körperlicher Anspannung, erhöhter Herzfrequenz, verstärktem Schwitzen, fokussiertem Tunnelblick, beschleunigter Atmung u.v.m. zu reagieren um für Kampf oder Flucht gerüstet zu sein, gäbe es uns heute nicht. Unsere Vorfahren wären längst zum schnellen Imbiss des oft bemühten Säbelzahntigers geworden. 

Herausforderungen und ihre Bewältigung gehören also seit jeher zu einem gesunden Leben. Unsere Fähigkeit mit Stressreaktionen auf prekäre Situationen zu antworten, ist also eine überlebenssichernde Grundlage. 
Im Hinblick auf diese Betrachtung erscheint das Wort „Stressprophylaxe“, also das „vorbeugende Verhindern von Stress“ paradox, wenn auch verständlich: Kurbelt es doch das - ohnehin schon gut florierende - Geschäft mit dem Stress an. Gut verdient wird nicht nur an den Gestressten selbst, auch die Ausbildungsbranche floriert, es gibt einen gefragten Markt für zertifizierte Stressmanager*innen, Burnout-Expert*innen und Anti-Stress-Coaches.

Vielmehr als um das Vermeiden und Vorbeugen von Stress, sollte es aber um das Halten von Balance, um eine Abfolge von An- und Entspannung gehen: Leben und Tod, Ein- und Ausatmung, Sommer und Winter, Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Weinen und Lachen, Wachen und Schlafen, Arbeit und Muße, … allem wohnt dieser Lebensrhythmus ganz natürlich inne, die Frage ist, was „Mensch“ daraus gemacht hat.

Mit der Erfindung des elektrischen Lichts, also noch nicht einmal seit 150 Jahren, besitzt der Mensch die Möglichkeit, sich die Nacht mit einem Fingerstreich zum Tage zu machen. Nächtliche Zwangspausen fallen somit weg. Für die meisten von uns kann im Lebensalltag nicht die Rede von Balance sein, viele stehen unter der Anspannung, den täglichen beruflichen und privaten Herausforderungen gerecht zu werden – da wird dann schnell einmal die wichtige Regenerationsphase zum Aufarbeiten genützt. Nachts noch schnell die Mails checken, den Bügelberg bezwingen oder aber auch schlaflos im Bett liegend Probleme wälzen.

Dabei sind gerade in herausfordernden Zeiten die Entspannungsphasen besonders wichtig.

Wer sich selbst beobachtet, merkt aber womöglich: Gerade, wenn es einmal „hoch her geht“, verkneifen wir uns Entspannung, erlauben wir uns kaum Genuss, kommt es uns nicht in den Sinn, uns Zeit für spielerische Tätigkeiten zu nehmen. Dabei könnte „spielerisch“ in seiner Bedeutung von „entspannend“ das gesuchte Teil im Puzzlespiel unserer bis zum Reißen angespannten Burn-Out-Gesellschaft, die ihren eigenen Ansprüchen steter Leistungsoptimierung hinterher galoppiert, sein. Vielleicht können wir unserem Erwachsenenalltag ganz bewusst mehr Raum für das „Spielerische“ geben? Für das Leichte, das Absichtslose, das Unbekümmerte und nicht zu Ernsthafte.

Fressfeinde im pädagogischen Berufsfeld

Auch Gefahr und Sicherheit sind Pole von Anspannung und Entspannung. Früher war die Gefahr der Fressfeind, heute ist es im pädagogischen Berufsfeld mitunter die Bewältigung bürokratischer Herausforderungen und administrativer Tätigkeiten, begleitet von der täglichen Flut an zu beantworteten E-Mails. Auch die wachsende Herausforderung, Kindern, Jugendlichen und Eltern gerecht zu werden und der tägliche Spagat zwischen den veränderten Bedingungen im pädagogischen Berufsalltag und den schleppenden gesellschafts- und sozialpolitischen Antworten darauf, zählen dazu. 

Unsere körperliche Reaktion auf all diese Herausforderungen bereitet uns noch immer auf eine Bewältigung im „Urzeit-Style“ vor und entspricht den damaligen, lebenserhaltenden Handlungsoptionen: fight-flight-freeze, also etwas salopp formuliert: Reißaus nehmen, Keule schwingen oder erstarren. Nichts davon ist uns im Klassenzimmer, im Kindergarten, hinter dem Schreibtisch dienlich. All die körperliche Anspannung, die wir gerade aufgebaut haben, würde über Bewegung (Reißaus nehmen, Keule schwingen) abgebaut - wird sie aber nicht. 

Dass Bewegung einen wichtigen Aspekt im Kontext einer gesunden Lebensführung und Stressbewältigung darstellt, ist kein großes Geheimnis. Aber Bewegung ist nicht gleich Bewegung. Wer zum Beispiel, um Entspannung zu erfahren, joggen geht und sich dabei selbst freudlos durch den Wald peitscht, wird wenig Entspannung erfahren. Für den Einen ist Skifahren eine Art, sich lustvoll körperlich zu bewegen, spielerisch und leicht über die Piste zu wedeln, für den Anderen ist Skifahren kalt, anstrengend und kein Grund zur Freude. Es gilt also auch hier, ganz individuell das Spielerische für sich neu zu entdecken. Welche Bewegungsform macht mir Spaß? Die Freude ist der entscheidende Aspekt beim Spielerischen, die Herangehensweise ohne Druck und ohne Erwartung macht den Unterschied zum Alltag, lässt Entspannung wirksam werden. 

Man sieht die schwarze Silhouette eines Läufers, im Hintergrund der blaue Abendhimmel und es wirkt es gebirgig.

Funken der Begeisterung

Wenn Hüther von der „Gießkanne der Begeisterung“ spricht, meint er den biochemischen Cocktail an neuroplastischen Botenstoffen, der im Gehirn ausgeschüttet wird, sobald wir uns begeistert für etwas interessieren. Dies bewirkt eine dichtere neuronale Vernetzung und Verschaltung im Gehirn und ist somit nichts anderes als ein körperlich gewordener Lernprozess. In seinem Buch „Rettet das Spiel“ veranschaulicht Hüther die mittels Kernspintomografie sichtbar gemachten Vorgänge im Gehirn, wenn mit Begeisterung gespielt wird: Dabei verringert sich die Aktivität im Mandelkern (Amygdala), also der Hirnregion, die bei Angst besonders aktiv wird. Im Spiel sind wir frei von Angst, wir entspannen uns, im besten Fall gehen wir völlig selbstvergessen im Spiel auf und sind sozusagen im Fluss, im Flow. 

Den Begriff „Flow“ prägte übrigens der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi schon in den 1970er Jahren. Das „Flow-Erleben“ ist ein Zustand, dem beim Spielen eine zentrale Rolle zufällt. Im Flow wird eine Balance zwischen Über- und Unterforderung gefunden, die spielende Person geht völlig selbstvergessen im Spiel auf, sie wird von ihm regelrecht absorbiert. 

Es liegt an uns, den Ausgleich in spielerischen Tätigkeiten zu finden, die uns wohltun, uns begeistern und bei denen wir wieder „ganz bei uns sind“ oder, um es mit Friedrich Schiller zu sagen:

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ 

Iris van den Hoeven
Iris van den Hoeven

Iris van den Hoeven ist Erziehungs- und Bildungswissenschafterin, Systemische Beraterin, Supervisorin, Coach, Referentin im elementarpädagogischen Bereich und Elternbildnerin.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-ND.

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