Der Begriff Lehrer*innenpersönlichkeit
Eva:
Wenn ich an den Begriff Lehrer*innenpersönlichkeit denke, so tauchen sofort Begriffe wie Enthusiasmus, Positivität, Leidenschaft und Herzlichkeit in mir auf. Im gleichen Moment schieben sich jedoch andere Themen wie Stress, Überforderung oder Perfektionismus in mein Gedankenfeld. Warum glaubst du, ist es für Lehrpersonen heute so schwierig, den Balanceakt zwischen „Berufung“ und überladenem Schulalltag zu finden?
Peter Paul:
Schon der Begriff Lehrer*innenpersönlichkeit weist auf eine starke Identifikation mit dem Beruf hin, die sehr oft in idealisierten Wunschvorstellungen und verinnerlichten Erwartungen ihren Ausgangspunkt nimmt und somit erst dann wirklich auf den Prüfstand gelangt, wenn jemand in Eigenverantwortung den Boden der „Realität“ betritt. Nicht von ungefähr hat sich der Begriff „Praxisschock“ gebildet.
Wichtig wäre meiner Meinung nach, Lehrpersonen in dieser Phase dabei zu unterstützen, den Boden der Identifikation zu verlassen und den Fokus auf andere Bereiche der eigenen Identität zu richten und diese gezielt weiterzuentwickeln.
„Übergangsrituale“ von einer Identität (Rolle) in die andere können dabei eine wichtige Bedeutung erlangen.
Wenn jemand hier zu sehr an seine Grenzen kommt, ist die Gefahr, sehr bald auszubrennen, hoch. In solchen Situationen könnte auch ein Berufswechsel nach einer bestimmten Zeit der Auseinandersetzung mit der eigenen beruflichen Identität sinnvoll sein.
Zu überlegen wäre, ob nicht von der öffentlichen Hand neue berufliche Tätigkeitsfelder geschaffen werden, in denen sich diese sehr engagierten Personen produktiv einbringen können.
Gezielte Berufsgruppenbegleitung
Eva:
Die Anforderungen an Lehrer*innen wachsen kontinuierlich: Digitalisierung, Bürokratie, Umgang mit herausfordernden Kindern und Eltern, Inklusion und Migration…Die Liste ist lang. Professionalität gepaart mit Flexibilität, Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit, das sind die neuen Schlagworte, die heute von Lehrpersonen verlangt werden. Laufen wir nicht Gefahr, zwischen all den Anforderungen, das wirklich Wesentliche, die Freude an der Arbeit mit Kindern, aus den Augen zu verlieren?
Peter Paul:
Ja, die Gefahr besteht in der Tat. Wir leben in einer Zeit, in der es schwierig geworden ist, Prioritäten zu setzen. Den Menschen wird vorgegaukelt, dass alles gleich wichtig ist. Und dann sehen wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Hier bedarf es einer gezielten Berufsbegleitung (Coaching) von Anfang an, das darauf ausgerichtet ist, den Blick für das Wesentliche zu schärfen und vielem anderen den Charme des Aufdringlichen zu nehmen.
Vieles gehört in den Bereich der Rahmenbedingungen, die nur schwer zu verändern sind und oft einfach - weil nicht in unserer Macht liegend - ertragen werden müssen.
Aufgabe von Lehrer*innen ist es auch, sich ein „dickes Fell“ anzutrainieren, gleichsam wie Siegfried von Xanten „im Drachenblut“ zu baden, dabei aber eine bestimmte Sensibilität zu bewahren. Diese wiederum braucht einen besonderen Schutz. Achtsamkeit mit sich selbst, wo innere „Schwachstellen“ auftauchen, kann als Möglichkeit der eigenen Entwicklung ins Auge gefasst werden.
Die innere Stimmigkeit
Eva:
Kaum eine Berufsgruppe ist mit so vielen negativen Vorurteilen belastet wie die der Lehrpersonen. Oft hören wir, dass Lehrkräfte zu viel Freizeit haben, sich ständig beklagen, besser bezahlt werden möchten, Kinder über- oder unterfordern ...
Ich denke, dass es heute, mehr denn je, von Bedeutung ist, in die Persönlichkeit der Lehrpersonen zu investieren. Ein selbstsicheres Auftreten, das Annehmen von herausfordernden Konflikten, die Schulung der Kritikfähigkeit, emotionale Belastbarkeit und starkes Durchsetzungsvermögen sind nur einige wenige Teilbereiche davon. Was denkst du, was kann Lehrpersonen heute stark machen?
Peter Paul:
Was andere über Lehrpersonen denken, hat mehr mit den Denkenden selbst, ihren Erfahrungen und dem dadurch gebildeten Wahrnehmungshorizont zu tun, als mit dem Verhalten, auf die dieses Denken gerichtet ist. Der Volksmund sagt ja. Wenn zwei Finger auf jemand anderen zeigen, zeigen drei auf mich selbst.
Was Lehrer*innen stark macht, ist die innere „Stimmigkeit“, die Kohärenz aller Teile der individuellen Persönlichkeit, die einmalige Identität jedes einzelnen.
„Ich bin, wie ich bin. So wie ich bin, bin ich in Ordnung. Ich verfüge über viele Ressourcen und ich nutze das, was mir begegnet, als Möglichkeit der Weiterentwicklung. Diese kann darin bestehen, verborgenes Potential frei zu legen oder bestimmte prägende Denk- und Verhaltensmuster aufzulösen“.
Sich selbst wertschätzen und lieben
Eva:
In keinem anderen Beruf ist der Kontakt zu Kindern so unmittelbar. Sie merken sofort, ob eine Lehrperson authentisch, werteorientiert, reflektiert und in ihrer Persönlichkeit gefestigt ist. Kinder entlarven Lehrpersonen auf eine Art und Weise, wie es sonst niemand kann. Das macht den Beruf auch so besonders schön, weil er Ehrlichkeit einfordert.
Peter Paul:
Ja, das unterstreicht genau das, was ich vorher gesagt habe. Die Begegnung mit Kindern bringt auch uns selbst in Kontakt mit den verschiedenen Seiten der eigenen Person und eröffnen zahlreiche Möglichkeiten, unsere eigene menschliche Vielfalt zu erschließen.
Stark und erfolgreich sind Lehrpersonen, die sich selbst wertschätzen und lieben. Damit eröffnen sie den Raum, in denen sie Kinder in ihrem So-Sein annehmen und lieben können.
Dazu eine Geschichte:
In einer Langzeitstudie wurde in Rio des Janiero untersucht, welche Kinder aus ärmlichen Verhältnissen ihr Leben erfolgreich gestalten konnten. Dabei fielen besonders Kinder auf, die dieselbe Grundschulklasse besucht hatten.
Im Interview sagten alle: „Wir hatten in der ersten Klasse eine ganz besondere Lehrerin.“
Nach langem Suchen wurde diese Lehrerin - inzwischen über 80 Jahre alt - gefunden. Auf die Frage, was sie denn gemacht habe, dass alle ihre Schüler*innen sie als so wichtig in Erinnerung behalten hatten, antwortete sie: „Ich habe sie geliebt.“
Eva:
Herzlichen Dank! Bleiben wir im Dialog…
Peter Paul Niederegger hat viele Jahre unterrichtet, war Schuldirektor und Präsident des Pädagogischen Instituts in Bozen. Er hat bei vielen pädagogisch innovativen Schulprojekten mitgearbeitet. Weiters ist er Psychotherapeut in eigener Praxis mit Beratungstätigkeit zu den Schwerpunkten:
Orientierungssuche, Beziehung und Kommunikation, Erziehungsfragen und beruflichen Belastungssituationen.
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