Pädagogische Haltungen: Was du von Hirten lernen kannst

Auch dieses Jahr setzen wir die Reihe der Betrachtung verschiedener Figuren der Weihnachtskrippe fort. Vor zwei Jahren haben wir uns Gedanken über die drei Weisen aus dem Morgenland gemacht, letztes Jahr ließen wir uns von der Gestalt des Heiligen Josef inspirieren. Und immer fragen wir uns: Was kann uns das für uns als Pädagoginnen und Pädagogen sagen?

Nun möchten wir uns den Hirten zuwenden. Die Hirten sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern Schlüsselfiguren zum Verständnis dessen, was da in der Krippe passiert.

Warum die Hirten?

Aus der Weihnachtsgeschichte wissen wir, dass die Hirten am Feld die ersten waren, denen die Botschaft von der Geburt Jesu verkündet wurde. Wobei diese Verkündigung eindrucksvoller nicht hätte sein können. Die Botschaft überbringt ein Engel Gottes, was an sich schon ein aufwühlendes Ereignis ist. Denn die Gottes Herrlichkeit reißt selbst den Gleichgültigsten buchstäblich vom Hocker. Darum sagen Engel immer als erstes: „Fürchte dich nicht!“. Nachdem der Engel verkündet hat, dass der erwartete Messias geboren worden ist, ist da noch ein großes himmlisches Heer. Viel mehr Getöse kann man sich gar nicht vorstellen! Vonwegen, Weihnachten sei die stillste Zeit im Jahr!

Nun aber stellt sich die Frage: Warum waren ausgerechnet Hirten auf dem Feld die ersten, denen die Geburt Christi geoffenbart wurde? Schnell tendieren wir zu einer etwas romantisierenden Antwort: Weil die Hirten arm waren. Aber ist das der wahre Grund? Die Hirten heute wie damals waren wichtige Dienstleister. Sie haben die Tiere der Besitzer gehütet und wurden dafür selbstverständlich entlohnt. Ich denke, da spielen noch andere Motive mit.

Das Bild des Hirten spielt in der Heiligen Schrift eine wichtige Rolle. Mit dem Hirten – damals wie heute gibt es natürlich auch weibliche Hirtinnen – werden Eigenschaften verbunden, wie auch Gott den Menschen gegenüber ist. Jesus selbst wird später einmal über sich sagen: „Ich bin der gute Hirte“. Das Johannesevangelium entfaltet dieses Bild im 10. Kapitel detailliert. Doch das Bild hat seine Wurzeln schon viel früher. Der Prophet Ezechiel übermittelt eine Gottesrede, in der Gott von sich als Hirte sagt:
 

Das Verlorene werde ich suchen,
das Vertriebene werde ich zurückbringen,
das Verletzte werde ich verbinden,
das Kranke werde ich kräftigen.

(Ez 34,16)

Vielleicht sind es gerade deshalb die Hirten: Sie versinnbildlichen die Mission Jesu. Was du daraus für deine pädagogische Praxis lernen kannst, schauen wir uns nun an.

Sind alle da?

Hirten müssen sich immer fragen: Sind noch alle Schafe da? Hat sich eines abgesondert, verlaufen, verirrt? Denn von Außen lauern Gefahren. Ein einzelnes Schaf wird schnell zur Beute. Hirten müssen Rechenschaft ablegen darüber, ob sie alle Tiere wieder wohlbehalten zurückbringen, oder ob welche fehlen.
Auch Jesus wird immer den einzelnen Menschen in den Blick nehmen. Er wird sich genau jenen zuwenden, die am Rande stehen und Gefahr laufen, ausgeschlossen zu werden. 

Für uns Pädagoginnen und Pädagogen steckt darin ein wichtiger Auftrag. Wir brauchen einen guten Blick dafür, wenn Kinder und Jugendliche nicht mehr mitkommen, sich absondern, ausklinken, vielleicht sogar flüchten. Denk an deine Kindergartengruppe oder deine Schulklasse. Physische Abwesenheit lässt sich leicht feststellen. Doch wer ist dabei, sich innerlich zu verabschieden? Wer hat vielleicht scheinbar ganz andere Denkvorstellungen, die nicht Mainstream sind? Wer wurde von anderen schon als hoffnungslos abgeschrieben? Dafür brauchen wir einen Blick. Und, was auch immer hilft: Einfach mal nachfragen. So wie Gott von sich im Propheten Ezechiel sagt: "Ich will nach meinen Schafen fragen." (Ez 34,11).

Denn um jemanden wiederzufinden, zu integrieren, braucht es Beziehung.

Wenn du eine Haltung des Nachfragens entwickelst und übst, wirst du in der Lage sein, Beziehung aufzubauen. Denn das Nachfragen kann sich immer nur an einzelne Personen richten. Dem Hirten geht es nämlich nicht um die Gleichförmigkeit der Herde – im Gegenteil: Es geht um jedes einzelne Individuum. Denn um jemanden wiederzufinden, zu integrieren, braucht es Beziehung. Wie die Schafe nur dem Hirten folgen, den sie kennen, so braucht es auch in der pädagogischen Arbeit eine Vertrautheit. Immer etwas von sich selbst herzugeben in dieser Beziehungsarbeit kostet Energie. Aber nicht umsonst sind die Hirten am Feld die ersten, die mitbekommen, dass sich auf der Welt was zum Guten ändert. Als Pädagoginnen und Pädagogen können wir die ersten sein, die etwas zum Guten ändern.

Verwundete heilen

Solange die Schafe gesund sind, kommen sie ganz gut alleine zurecht. Doch schnell passiert es, dass es sich verletzt. Ein kleiner Fehltritt, eine Unachtsamkeit, und schon sind Wunden da, die, wenn sie nicht behandelt werden, auch bedrohlich werden können. Aufgabe der Hirtinnen und Hirten ist es, für die Gesundheit der Tiere zu sorgen.
Blicken wir auf unsere pädagogischen Einrichtungen, Kindergärten, Schulen. Da gibt es die Kollegin, den Kollegen, der oft seltsam reagiert. Da gibt es das Kind, den Jugendlichen, die plötzlich von etwas getriggert wird und kaum noch zu handlen ist. Oder – ganz unverblümt gesagt – permanent den Unterricht stört.

Was würde aber ein guter Hirte, eine gute Hirtin sehen? Möglicherweise gibt es da innere Verletzungen. Manchmal sind es nur kleine seelische Verwundungen, oft auch unabsichtlich zugefügt. Doch wenn sie nicht geheilt werden, bleiben sie, werden schlimmer, und führen dann zu Ausweichverhalten. Deshalb ist es eine der wichtigsten Aufgaben von Hirtinnen und Hirten zu heilen. Jesus wurde schnell bekannt dafür, dass er Verwundungen heilte. Wunder waren das keine. Es war Beziehungsarbeit. Jesus heilte vor allem Beziehungen. Auch dieser Zusammenhang zwischen den Hirten am Feld und der Mission von Jesus könnte Grund sein dafür, dass den Hirten zuerst bekannt – oder sollte ich sagen: bewusst – wurde, was mit der Geburt Jesu geschieht. Es geht um einen neuen Blick auf die Menschen: Auf ihre Verwundungen und darauf, diese zu heilen.

Der Verband für seelische Verletzungen ist Verbundenheit.

Dies ist die zweite wichtige Haltung, den die Hirten aus der Krippe uns Pädagoginnen und Pädagogen geben empfehlen: Schauen wir unsere Kolleginnen und Kollegen, unsere uns anvertrauten jungen Menschen mit einem anderen Blick an, wenn wir wieder einmal von ihrem eigenartigen Verhalten irritiert werden. Gibt es Verwundungen, die ich heilen sollte? Gibt es innere Verletzungen, die einen Verband benötigen? Und dieser Verband ist nichts anderes als der Aufbau einer Verbundenheit. Der Verband für seelische Verletzungen ist Verbundenheit. Auch da gilt als probates Mittel: Einfach mal nachfragen.
Als Pädagoginnen und Pädagogen sind wir für die Gesundheit der uns anvertrauten Menschen verantwortlich. Das ist vielleicht sogar noch wichtiger als so mancher Lerninhalt. Denn seelisch gesunde Menschen sind friedliche Menschen. Und Friede ist das, was die Welt am meisten braucht.

Phillip Tengg
Phillip Tengg Mag. theol.

Phillip Tengg hat katholische Fachtheologie in Innsbruck studiert und ist Geschäftsführer des Kath. Tiroler Lehrervereins. Außerdem ist er Fachreferent für Liturgie in der Diözese Innsbruck.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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