Vom Glück des Lehrberufs

Artikel vorlesen lassen (6+)

In diesem Beitrag reflektiert Clemens Sedmak die Freuden und Herausforderungen, die mit dem pädagogischen Alltag einhergehen. Pädagogen*innen sind nicht nur Wissenvermittler*innen, sondern auch Wegbegleiter*innen von jungen Menschen. Sedmak lädt uns ein, über die Bedeutung dieser Rolle nachzudenken und das Glück darin zu erkennen. 

Situationen, in die Pädagoginnen und Pädagogen kommen können

In Michael Köhlmeiers bemerkenswertem Buch „Idylle mit ertrinkendem Hund“ beschreibt der Ich-Erzähler eine Szene, in der zwei Männer bei einem Winterspaziergang in Hohenems an einen zugefrorenen Teich kommen, in dem ein Hund am Ertrinken ist – das Tier ist eingebrochen und offensichtlich in Lebensgefahr. Der Freund des Ich-Erzählers ergreift die Flucht, er kann das schaurige Schauspiel nicht mit ansehen, will Hilfe holen; der Ich-Erzähler bleibt allein zurück. Allein mit einem ertrinkenden Hund. Was soll er tun?
Nun, das sagt dir kein Buch und das sagt dir keine Selbsthilfegruppe und das sagt dir kein teures Seminar über das Realisieren deiner Potentiale und auch kein Studium. Du bist allein mit der Situation. Hier bist du mit allem, was deine Persönlichkeit ausmacht, auf dich gestellt, und du musst eine Entscheidung treffen und handeln. Noch einmal: Das hast du nicht in einem Kurs gelernt und auch nicht durch Prüfungen und auch nicht durch Techniken. Hier bist du mit deinem ganzen Menschsein gefordert. Das ist ein Punkt, der in den meisten Leadership-Ausbildungen übersehen wird: Entscheidungsträger müssen in einer einzigartigen Situation, auf die sie nicht vorbereitet sind, entscheiden und handeln. Auch unter Druck (ein Hund ertrinkt!), auch in der Einsamkeit (dein Begleiter hat dich verlassen). Hier machen sich Charakterschwächen und Persönlichkeitsdefizite grausam bemerkbar.

Das ist eben auch die Situation eines Lehrers und einer Lehrerin. Sie findet sich immer wieder in neuen Situationen, die sie nicht antizipieren kann, und muss mit dem gesamten Gewicht ihrer Persönlichkeit in diese Situation eintreten.
Frank McCourt, mehrmals „Lehrer des Jahres“ in New York, einem pädagogischen Pflaster, das vielleicht noch härter ist als Tirol, beschreibt in seinem Buch Teacherman seine erste Erfahrung als Lehrer. Er kommt zum Klassenzimmer, die Jugendlichen nehmen keine Notiz von ihm; er kämpft sich eine Schneise durch die redenden, streitenden, turnenden und tanzenden Schülerinnen und Schüler. Er stellt sich zum Lehrerpult, findet immer noch keine Beachtung. Mit feiner Selbstironie beschreibt er, wie seine ersten pädagogischen Worte nach vier Jahren intensiven Studiums lauteten: „Hey!“ Auch hier keine Wirkung. Plötzlich fliegt ein Sandwich nach vor und landet vor seinen Füßen. Nun wieder: Kein Kurs hat ihn auf diese Situation vorbereitet, kein Buch, kein Seminar, keine Prüfung, keine wissenschaftliche Arbeit. Er ist allein gelassen und auf sich gestellt und muss diese für ihn neue Situation meistern. Das ist die Realität des Lehrberufs. Frank McCourt sieht sich, was die Sache nicht leichter macht, mit der Aufmerksamkeit und den abwartenden Blicken der Jugendlichen konfrontiert. Was wird er nun machen? Er bückt sich, hebt das Sandwich auf und beißt hinein. Damit ist das Eis gebrochen, er hat durch dieses Verhalten die Erwartungshaltung der Schülerinnen und Schüler ausgehebelt und sie überrascht. Freilich, das würdest du kein zweites Mal machen, könnte es doch sein, dass sich die Zutaten des Sandwiches in der Zwischenzeit gefährlich verändert haben.
Als Lehrerin und Lehrer musst du deine Persönlichkeit entwickeln, musst du an dir arbeiten, musst Charakterschwächen abschleifen und musst selbst auf sicherem Grund stehen, wenn du anderen Weg weisen willst. 

Es ist ein Glück, für andere da zu sein

Joan Anderson verbrachte ein Jahr auf Cape Cod und lernte dort die neunzigjährige Joan Erikson kennen, die Ehefrau des berühmten Identitätspsychologen Erik Erikson. Anderson beschreibt diese Erfahrung in ihrem schmalen Buch „Spaziergang am Meer“. Die neunzigjährige Dame vermittelt ihrer neuen Freundin Einsichten in das Glück des Lehrberufs – es macht Freude, nicht allein für sich zu leben.
Joan Erikson vermittelt Lebenseinsichten – etwa:

  • „Verlass dich auf deine Stärken!“
  • „Teile dein Wissen mit anderen!“
  • „Hör nicht auf, zu spielen!“
  • „Sei immer bereit, Herausforderungen anzunehmen!“

Es ist ein Glück, für andere da zu sein. Aus der wissenschaftlichen Resilienzforschung wissen wir, dass Menschen, die sich nur für sich selbst interessieren, in sich selbst hineingekrümmt sind, weniger widerstandsfähig sind, wenn schwierige Zeiten kommen. Ein Mensch wird in seiner Wiederaufbaufähigkeit und in seiner Widerstandskraft gestärkt, wenn er auf andere zugeht, wenn er sich für andere interessiert, wenn er nicht nur für sich lebt. Pedro Arrupe, der langjährige Generalobere der Jesuiten, der viele Jahre Missionar in Japan war, hat schwierige Zeiten in seinem Leben – eine einmonatige Inhaftierung in Japan wegen unbegründeten Spionageverdachts, die Atombombe in Hiroshima, wo er an diesem 6. August 1945 das erste Lazarett einrichtete – bewältigt, weil er nicht auf sich schaute und auf den eigenen Vorteil, sondern den Menschen diente. Das ist doch eine wunderbare Einsicht in das Glück des Lehrberufs:

Lehrerinnen und Lehrer haben Grund, glücklich zu sein, weil sie nicht nur für sich leben, sondern für andere – und auch den Auftrag haben, junge Menschen dahin zu führen, nicht nur für sich zu leben und nicht nur an sich zu denken. Das ist die Lektion von Cape Cod – gegeben von einer neunzigjährigen Dame, die munter und lebensbejahend war, immer bereit, sich auf Neues einzustellen, zu lernen und vor allem: zu teilen.

Vielfältiges Pädagogenglück

Das Glück des Lehrberufs besteht darin, dass eine Pädagogin, ein Pädagoge nicht nur für sich leben kann – und damit glücklicher ist. Wenn wir in der Philosophie über das Glück nachdenken, so wissen wir, dass wir verschiedene Formen des Glücks unterscheiden können. Da gibt es das Wohlfühlglück, an das viele Menschen denken, wenn sie das Wort „Glück“ hören. Es ist die Art von Glück, das Wellness- Hotels verkaufen; das Glück des Verwöhntseins, Geborgenseins, Betreutseins, das Glück der Behaglichkeit, Bequemlichkeit, das Glück des Angenehmen und Behüteten und Schönen.

Wir wünschen allen Menschen im Lehrberuf, dass sie dieses Glück auch erfahren, das Glück, inmitten des Unterrichts am rechten Platz und geborgen zu sein, das Glück, Stunden des Wohlgefühls in der Schule erfahren zu dürfen. Ein portugiesischer Arbeitspsychologe, Nuno dos Santos, hat darauf hingewiesen, dass Arbeit, die diese Glücksmomente nicht kennt, raubtierhaft wird, an der Substanz zehrt, Menschen auslaugt und ermüdet. Deswegen ist es auch wichtig, im eigenen Arbeitsalltag darauf zu schauen, dass Raum für solche Glücksmomente gegeben ist.
Aber damit ist das Glück nicht ausgeschöpft.
Denken wir an das Anstrengungsglück – es ist Glück, das mit Anstrengung und Arbeit verbunden ist. Wenn ein Mensch um vier Uhr morgens aufsteht, um sich an den anstrengenden und schweißtreibenden Aufstieg auf einen Berg zu machen, und um zehn Uhr vormittags den Gipfel erreicht – dann wird dieser tapfere Bergsteiger eine Form von Glück empfinden, die sich deutlich vom Wohlfühlglück unterscheidet. Wir könnten hier von Anstrengungsglück sprechen, das sich mit Aufwand und Mühe und Anstrengung und Krafteinsatz verbindet. Wir wollen nicht ausschließen, dass einiges von dem, was im Unterrichten geschieht, mit echter Anstrengung zu tun hat. Der schulische Alltag ist anstrengend – und so soll es auch sein. Es ist nicht immer der Weg des geringsten Widerstands, morgens in die Schule zu gehen und sich zu mühen, Gutes zu ermöglichen, Schönes blühen zu lassen, Wahres zu vermitteln – und so soll es auch sein. Das Glück des Lehrberufs besteht auch darin, dass man müde ist und weiß, warum, dass man sich anstrengen muss und weiß, dass es das wert ist. Der Aufbau an Zukunft und Hoffnung ist die Mühe wert. Auch das ist eine Lektion von Cape Cod – das Leben ist nicht dazu da, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und es sich gut gehen zu lassen. Die neunzigjährige Joan Erikson vermittelt diese wichtige Einsicht: Menschen, denen es vor allem um ein bequemes Leben geht, werden schneller müde und haben weniger Lebenskraft. Glück hat in besonderer Weise mit der rechten Einstellung zu tun: Neben Wohlfühlglück und Anstrengungsglück sind zumindest noch drei Formen von Glück zu nennen – das Gnadenglück, das Integritätsglück und das Weisheitsglück. 
Das Gnadenglück ist das Glück des Zu-Fallens, das Glück, mit dem man nicht rechnen kann, von dem man überrascht wird, das sich einstellt; es ist jene Art von Glück, die im römischen Denken mit „fortuna“, im christlichen Denken freilich mit dem Begriff der „gratia“, der Gnade als geschenkhafte und unverdiente Fügung Gottes beschrieben wird. Menschen, die ehrlich mit sich selbst sind, wissen, wie viel in ihrem Leben zugefallen ist, wie viel in unserem Leben jenseits des Konstruierbaren und Manipulierbaren liegt. Wenn jemand ein Studium abschließt, so liegt darin ein Grund für Dankbarkeit – denn viele Faktoren haben hier zusammengespielt, vieles ist zugefallen, vieles ist Geschenk, Gnade. Gnadenglück ist es auch, das wir im schulischen Alltag brauchen– das Gnadenglück ist im Lehrberuf nicht erzwingbar, aber eine entsprechende Einstellung (was harte Arbeit sein kann!) kann hier einiges beitragen. In der Resilienzforschung, der Forschung über Widerstandskraft, wird Dankbarkeit immer wieder als eine der wichtigsten – und auch billigsten! – Resilienzressourcen erwähnt. 
Das Integritätsglück oder Redlichkeitsglück ist eine Form des Glücks, die sich einstellt, wenn ich erkenne, dass ich Wichtiges und Richtiges in der Arbeit mit den Kindern getan habe. 
Das Weisheitsglück hat viel mit Selbstachtung zu tun. Man kann es auch nicht erzwingen, man kann es den Glücksmomenten aber leichter machen, sich einzustellen.

Der Aufbau an Zukunft und Hoffnung ist die Mühe wert.

Studien über „gute Lehrpersonen“ haben gezeigt, dass Menschen im Lehrberuf vor allem dann glücklich sind, wenn sie über ein breiteres Verhaltensrepertoire verfügen, also nicht immer nur nach demselben Muster agieren, sondern auch die Fähigkeit haben, andere zu überraschen – das ist offensichtlich auch eine Sache des Wachsens und Lernens; Menschen sind eher glücklich im Lehrberuf, wenn sie Feedback suchen und dieses auch gerne entgegennehmen und darauf reagieren. Schließlich: Das Glück im Lehrberuf hängt auch damit zusammen, dass sich Lehrerinnen und Lehrer nicht in die Geiselhaft einseitiger Evaluationskriterien nehmen lassen. Wer über eine Vielzahl von Evaluationskriterien verfügt, wird sich nicht so leicht frustrieren lassen. Menschen, die im Lehrberuf glücklich sind, achten auf das Ganze der Gemeinschaft, auf die Kinder und Jugendlichen, auf die Kolleginnen und Kollegen, auf die Vorgesetzten, auf die Eltern ... Sie verfügen also über viele Standbeine im Selbstbild und in Quellen der Fremdwahrnehmung – und sie können, gerade weil sie die gesamte Gemeinschaft in den Blick nehmen, leichter für andere da sein. Dies also die Lektionen von Cape Cod: Sei offen für das Glück, das sich vor allem dann einstellt, wenn du am Glück anderer arbeitest; hör nicht auf zu lernen und zu wachsen; teile dein Wissen.

Das Glück im Lehrberuf besteht darin, Menschen lieben zu dürfen. Denn Liebe ist, wie uns Erich Fromm in seiner „Kunst des Liebens“ erinnert, die tätige Sorge um das Wohlergehen eines anderen – und im Falle des Lehrberufs ist es das Wohl eines anderen, von dem die Zukunft eines Landes abhängt.
Das Glück im Lehrberuf besteht auch darin, immer wieder auch an Grenzen zu stoßen, einen Sinn für Achtung vor dem Mysterium zu entfalten und diese Achtung weitergeben zu können.
 

Bist du glücklich in deinem Beruf?

Clemens Sedmak schreibt in seinem Artikel: Das Glück im pädagogischen Beruf besteht auch darin, immer wieder an Grenzen zu stroßen. Weiters gibt er den Hinweis, dass der Aufbau an Zukunft und Hoffnung, die Mühe wert ist. 

Wie geht es dir in deinem Berufsalltag? Bist du glücklich in deinem Beruf?

Wie geht es dir in deinem Berufsalltag? Bist du glücklich in deinem Beruf?

Ja, trotz aller Schwierigkeiten, die sich im Alltag ergeben, bin ich in meinem Beruf glücklich. 50 %
Hin und wieder zweifle ich. 50 %
Nein, denn ich habe nicht mehr viele Glücksmomente im Beruf. Ich merke, es stimmt für mich einiges nicht mehr. 0 %

Dieser Beitrag wurde das erste Mal in der ph.script, Ausgabe 1/2009 veröffentlicht
Mit freundlicher Genehmigung des Autors durften wir diesen Beitrag bereits in AUFLEBEN 2014/03 und jetzt hier auf AUFLEBEN.online veröffentlichen. Herzlichen Dank!
 

Clemens Sedmak
Clemens Sedmak Prof. DDDr.

Clemens Sedmak ist österreichischer Theologe und Philosoph. Er ist Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg, sowie Leiter des wissenschaftlichen Beirats des Internationalen Forschungszentrums für soziale und ethische Fragen in Salzburg. Seit 2018 ist Clemens Sedmak Professor für Sozialethik an der Keough School of Global Affairs der University of Notre Dame in den USA.

Dieser Artikel erscheint unter Wahrung aller Rechte gem. UrhG.

Kommentar schreiben

Bitte logge dich ein, um einen Kommentar zu schreiben.

Kommentare

Sei der erste, der diesen Artikel kommentiert.

Das könnte dich auch interessieren