Leben im Autopiloten-Modus
Häufig verbringen wir einen mehr oder weniger großen Teil unseres Tages im Autopiloten-Modus. Am Morgen duschen wir und putzen die Zähne – automatisiert, der Körper im Bad stehend, in Gedanken bereits gefangen von den imaginierten Herausforderungen, die auf uns warten könnten, oder noch beschäftigt mit Erlebnissen des Vortages. Wir frühstücken, ohne den Geschmack des Brotes oder den Geruch der Marmelade wirklich in uns aufzunehmen oder die Wärme der Teetasse in unseren Händen zu fühlen. Schnell kann ein Gefühl der „Unwirklichkeit“, der „Abgetrenntheit“ vom Leben auftauchen, ein Leben wie „unter einer Käseglocke“. Wir funktionieren, spüren vielleicht nur in raren Momenten unsere vibrierende Lebendigkeit.
Wie unter einer Käseglocke
Im Autopiloten-Modus reagieren wir automatisch auf innere oder äußere Reize, ohne uns dessen bewusst zu sein. Vielleicht sagen wir im Streit Sätze, die wir im Nachhinein bereuen, vielleicht schalten wir jedes Mal, sobald wir nach Hause kommen, den Fernseher oder das Radio ein, vielleicht haben wir das Stück Schokolade bereits im Mund, ohne uns bewusst dafür entschieden zu haben.
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.
Viktor Frankl
Achtsamkeit: der Gegensatz zum Autopiloten-Modus
Was ist Achtsamkeit? Achtsamkeit wird häufig als Synonym für „Aufmerksamkeit“ verwendet. So wie dieser Begriff hier verstanden wird, umfasst er wesentlich mehr: es geht darum, auf eine ganz bestimmte Weise aufmerksam zu sein. Achtsamkeit kann beschrieben werden als eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, ohne zu bewerten. Dabei kann die Aufmerksamkeit auf innere Vorgänge (Körperempfindungen, Gedanken und Emotionen) gelenkt werden, oder auch darauf, was im Außen geschieht.
Es kann interessant sein, über Achtsamkeit zu lesen. Worte können aber nur begrenzt beschreiben, wie sich das „Eintauchen“ in genau diesen Moment anfühlt.
Darf ich Sie einladen, kurz „innezuhalten“ und das Handy oder die PC-Maus beiseite zu legen, um für ein paar Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit weg von diesen Worten und hin zu Ihrem nächsten Atemzug zu richten? Einfach zu spüren, wie Sie einatmen – und – zu spüren, wie Sie ausatmen ...
Sie haben es ausprobiert? Es geht nicht darum, etwas Besonderes zu empfinden oder den Atemfluss zu verändern, sondern darum, wahrzunehmen, was sich gerade zeigt. Grundsätzlich ist es also ganz einfach, achtsam zu sein. Die Schwierigkeit besteht darin, sich im Alltag daran zu erinnern.
Ihr Freund, der Körper
Häufig erleben wir unseren Körper im Alltag als „Transportmittel“ für den Kopf oder auch als Maschine, um mechanisch Routinetätigkeiten zu erledigen. Unsere Gedanken über den eigenen Körper sind meist geprägt von ambitionierten Leistungserwartungen sowie strengen Schönheitsidealen. Welch ein Wunderwerk unser Körper darstellt, gerät dabei meist in Vergessenheit. Der große Immunologe Lewis Thomas erinnert uns daran, wenn er betont, dass er sich lieber in das Cockpit einer Boeing 747 setzen würde, ohne etwas vom Fliegen zu verstehen, als für die Funktionen seiner Leber zuständig zu sein (beschrieben in „Gesund durch Meditation“ von Jon Kabat-Zinn).
Dabei ist unser Körper ein wichtiges Tor zur Gegenwart. Im Gegensatz zum Geist, der von morgens bis abends beschäftigt sein kann mit Nachgrübeln über die Vergangenheit, eingenommen ist von Zukunftsplänen oder in Phantasien flieht, befindet sich unser Körper immer im gegenwärtigen Moment. Sobald wir unseren Körper in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen, indem wir ihn einfach spüren (und nicht über ihn nachdenken), kommen wir in genau diesem Augenblick an – im einzigen Zeitpunkt, in dem unser Leben statt findet.
Was nehmen Sie in diesem Moment wahr, wenn Sie wohlwollend und interessiert in Ihren Körper hineinspüren? Vielleicht Empfindungen von Druck, Schwere, von Spannung, von Temperatur, vielleicht Vibrationen, ein Pulsieren, Pochen oder Kitzeln? Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper richten, erleichtern wir die „Verankerung“ im gegenwärtigen Moment.
Achtsamkeit: die Basis für Selbstfürsorge
Und damit stellt Achtsamkeit die Basis für jegliche Form der Selbstfürsorge dar. Durch regelmäßiges Hineinspüren in den Körper gelingt es uns leichter, uns auf jene Informationen einzustimmen, welche er uns zu vermitteln versucht. So können wir dessen Signale – von subtilen Anzeichen eines Ungleichgewichtes (wie die leichten Verspannungen im Nackenbereich, die sporadisch auftreten) bis hin zu einschneidenden Warnhinweisen (wenn wir über Wochen jede Nacht stundenlang wachliegen) – aufgreifen und dann ganz bewusst entscheiden, wie wir liebevoll für uns sorgen könnten.
Manchmal wüssten wir genau, was uns jetzt gut täte – und trotzdem verschieben wir es auf später. Oft stechen hinderliche Glaubenssätze (wie „Ich habe es nicht verdient“, „Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“) einem fürsorglichen Umgang mit uns selbst im Wege. Auch in diesem Fall kann Achtsamkeit unterstützend wirken: beim Beobachten unserer Gedanken können wir erkennen, welche Hindernisse gerade in unserem Geist aktiv sind und uns davon abhalten, fürsorglich mit uns umzugehen.
Damit stellt Achtsamkeit ein elementares Mittel zur Prävention von Burnout dar. Denn bereits ganz zu Beginn eines Burnout-Prozesses werden die eigenen Bedürfnisse ignoriert, verdrängt bzw. überhaupt nicht mehr wahrgenommen.
Einige Impulse für Ihren Alltag
Spüren der Körperhaltung
Lenken Sie mehrmals am Tag Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Körperhaltung, ob beim Warten an der Supermarkt-Kassa, beim Unterrichten oder auch beim Autofahren. In welcher Haltung befindet sich der Körper gerade? Wie fühlt sich der Körper in dieser Haltung an?
Die Fußsohlen wahrnehmen
Unser Geist liebt es zu denken und vollbringt bedeutsame Aktivitäten beim Planen, Organisieren oder Reflektieren. In schwierigen Situationen jedoch, in denen möglicherweise Angst oder Zorn auftauchen, tendiert der Geist dazu, überaktiv zu werden, um dem Problem zu entgehen. Das Gedankenkreisen vergrößert das Problem allerdings noch. Indem wir die Aufmerksamkeit auf die Empfindungen in unseren Fußsohlen richten (wie z.B. auf Druck, Kontakt mit den Socken oder den Schuhen, Kälte, Wärme) besteht die Möglichkeit, dass wir uns stärker verankert fühlen und Gedanken und Emotionen beobachten können, ohne uns von ihnen mitreißen zu lassen.
Mini-Achtsamkeitsübung: Dauer 3 – 5 Minuten, Durchführung idealerweise dreimal täglich oder öfter
Stellen Sie sich selbst folgende drei Fragen:
- Wie stark ist mein Körper angespannt? (0 – 100 %)
- Was sind meine im Vordergrund stehenden Emotionen?
- Was sind meine im Vordergrund stehenden Gedanken?
Beobachten Sie dann den Fluss Ihres Atems, ohne diesen zu verändern. Spüren Sie anschließend für ein bis drei Minuten die Lebendigkeit und Präsenz Ihres Körpers.
Einladung zum „Hineinlauschen“:
- Wie sorge ich für meinen Körper in Bezug auf Schlaf, Ernährung, Bewegung?
- Woran erkenne ich als Erstes, dass ich mental oder körperlich müde bzw. erschöpft bin?
- Wie sorge ich für meinen Geist, vor allem, wenn ich unter Stress stehe?
- Welche Wege kenne ich, mit „Gedankenkreisen“ umzugehen?
- Was gibt mir Energie und Lebensfreude?
- Was schenkt mir ein Gefühl von Geborgenheit und Wohlbefinden?
- Was „nährt“ mich auf allen Ebenen des Seins?
- Was ist das Wichtigste in meinem Leben? Wie viel Zeit und Raum nehme ich mir dafür?
Weiterführende Literatur
- Das Achtsamkeits-Übungsbuch. Halko Weiss, Michael E. Harrer, Thomas Dietz, Klett-Cotta
- Gesund durch Meditation. Jon Kabat-Zinn, O.W.Barth Verlag
Mehr Informationen zum Thema Achtsamkeit und zur Autorin Barbara Ploner.
Dieser Beitrag wurde das erste Mal in der AUFLEBEN Ausgabe 04/2016 veröffentlicht.
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