Empathie, Respekt und soziale Wertschätzung im pädagogischen Alltag

In diesem Dialog spricht Eva Niederegger mit Barbara Gross über die Wichtigkeit von positiven Beziehungen im pädagogischen Alltag, über Diversität und Interkulturalität in Schule und Kindergarten, über Bildungsgerechtigkeit und jene Fähigkeiten, die auch zukünftig Bestand haben werden, sowie über die Ursachen des Attraktivitätsverlustes der pädagogischen Berufe und die deshalb dringende Notwendigkeit einer Aufwertung.

Diversität und Interkulturalität

Eva Niederegger: Sie wurden kürzlich mit dem „Junior Research Award Südtirol/Alto Adige" ausgezeichnet und somit für Ihre herausragende Leistung in Ihrer wissenschaftlichen Karriere gewürdigt. Sie forschen und lehren im Bereich der interkulturellen Pädagogik an der Technischen Universität Chemnitz und lehren allgemeine Pädagogik an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen. Warum, denken Sie, hat sich die Jury für ein Thema aus dem pädagogischen Bereich entschieden?

 

Barbara Gross: Ich freue mich sehr, dass der Junior Research Award Südtirol/Alto Adige diesmal an die Erziehungswissenschaft ging. Dies ist nicht nur eine Anerkennung meiner Arbeit, der Preis bietet auch die Möglichkeit, für Diversität zu sensibilisieren und eine kritische Hinterfragung von binären Strukturen und Denkweisen in der Gesellschaft anzuregen. Ein Kriterium war es auch, an einem Thema zu forschen, das für die Provinz von Relevanz ist. Daraus lässt sich schon schließen, dass Bildung allgemein und interkulturelle Pädagogik im Spezifischen doch – trotz aller kritischen Stimmen – einen gewissen Stellenwert in Südtirol einnimmt.

 

Eva Niederegger: Diversität und Interkulturalität sind in unserer Grundschul- und Kindergartenrealität jene Themen, welche zunehmend in den Vordergrund drängen und nach Antworten suchen. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Bildungsinstitutionen ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, dann finden wir auch unter den Lehrpersonen, den pädagogischen Fachkräften des Kindergartens, den Eltern und nicht zuletzt den uns anvertrauten Kindern so viele Meinungen dazu, wie es Menschen gibt. Wie gehen wir sorgsam mit diesen Themen in unseren Klassen/Gruppen um?

 

Barbara Gross: Vorwegnehmen möchte ich, dass unsere Bildungsinstitutionen nur auf Seiten der Kinder ein Spiegelbild der Gesellschaft darstellen. Die Zusammensetzung der Gruppen und Klassen ist durchaus sehr heterogen, eine entsprechende Diversität können wir auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte und des Lehrpersonals allerdings nicht finden. Dies erschwert auch den Umgang mit Diversität, wenn Entscheidungen und Maß- nahmen ohne den Einbezug von betroffenen Personen getroffen werden. Ein erster Schritt wäre es also, betroffene Personen stärker in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und ihnen eine Stimme zu geben.

Zum Beispiel lesen wir in den Richtlinien des Ministeriums zur Integration von Schülern*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund, dass deren Erstsprache(n) im Schulleben einbezogen, wertgeschätzt und gefördert werden soll(en). Dies kann auch dann gelingen, wenn Pädagogen*innen und Lehrpersonen die jeweilige(n) Sprache(n) nicht beherrschen, indem beispielsweise betroffene Kinder selbst und deren Eltern als Expert*innen wahrgenommen werden und als solche agieren können. Die Haltung von Pädagogen*innen, Lehrpersonen, Schulführungskräften und allen weiteren an Bildungsinstitutionen tätigen Personen ist also ausschlaggebend.

Entwicklung der Autonomie

Eva Niederegger: Einer Ihrer didaktischen Forschungsschwerpunkte liegt zudem im Bereich der Bildungsgerechtigkeit in Grundschule und Kindergarten. In der diversitätssensiblen Pädagogik geht Bildungsgerechtigkeit über ein Verständnis eines gerechten Zugangs zu Ressourcen und leistungsbezogenen Chancen hinaus. Sie sprechen von der Entwicklung einer individuellen Autonomie. Was ist damit genau gemeint und wie können wir in Schule und Kindergarten hierbei Unterstützung bieten?

 

Barbara Gross: Erwachsene können – wenn sie über die notwendigen Ressourcen verfügen bzw. ihnen diese zur Verfügung gestellt werden – autonom entscheiden, wie sie diese verwenden und einsetzen. Bei Kindern ist dies anders, da diese im Kindergarten- und Schulalter autonomes Handeln erst Schritt für Schritt erwerben: Tatsächlich ist die Unterstützung bei der Entwicklung der Autonomie von Heranwachsenden eine zentrale Aufgabe von Bildungsinstitutionen. Das heißt, allen die gleichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und es Kindern zu überlassen, was sie daraus machen, entspricht nicht dem Prinzip der Bildungsgerechtigkeit. Natürlich müssen dem Kind jene Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die es braucht, um eine bestimmte Leistung erzielen oder einen bestimmten Entwicklungsschritt meistern zu können. Andererseits muss dieses Kind aber auch entsprechend seiner Entwicklung begleitet werden. Dazu ist eine positive pädagogische Beziehung, die durch Empathie, Respekt und soziale Wertschätzung gekennzeichnet ist, unabdingbar. Kindergärten und Schulen können unterstützen, indem das Kind mit seiner Ausgangslage – dazu gehört beispielsweise auch der sprachlich-kulturelle Hintergrund – wertgeschätzt wird und seine individuellen Kompetenzen in der Planung und Durchführung von Bildungsaktivitäten berücksichtigt werden.

 

Eva Niederegger: Der chinesische Unternehmer Jack Ma, Gründer der Online-Plattform Alibaba, hat vor kurzem erklärt: „Alles, was wir in Zukunft unterrichten, muss sich von dem unterscheiden, was Maschinen können.“ Weiters meint er, dass die Vermittlung von Werten, die Schulung des unabhängigen Denkens, Teamwork und nicht zuletzt Mitgefühl wichtiger denn je werden. Welche Fähigkeiten werden Ihrer Meinung nach auch zukünftig noch relevant sein und wie können wir diese Fähigkeiten effektiv vermitteln, um Kinder bestmöglich auf die Anforderungen in der schnelllebigen Welt vorzubereiten?

 

Barbara Gross: Viele Inhalte, die wir heute vermitteln, könnten in Zukunft möglicherweise nicht mehr relevant oder überholt sein. Künstliche Intelligenz und neue Technologien werden den Arbeitsmarkt und auch die Art und Weise, wie und was wir lernen, verändern.

Was Menschen aber nach wie vor brauchen werden, sind soziale und persönliche Kompetenzen – einige Experten*innen gehen sogar davon aus, dass diese in Zukunft noch stärker notwendig sein werden. Besonders relevant, auch mit Blick auf die Fülle an Informationen und das scheinbar zuverlässige Wissen in verschiedensten Medien, ist auch die Förderung des kritischen und analytischen Denkens, und das – in angemessenem Maße – bereits im Kindesalter. Das heißt, die direkte Wissensvermittlung wird in Bildungsinstitutionen in Zukunft entsprechend geringer ausfallen. In Bezug auf den sich schnell verändernden Arbeitsmarkt wird die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen notwendig sein. In einer sich schnell wandelnden und globalisierten Welt wird die Notwendigkeit bestehen, auch mit Menschen, die andere Erfahrungen gemacht haben und die unterschiedliche Lebensweisen und Vorstellungen vertreten, zusammenzuarbeiten und mit Ungewissheiten umgehen zu können; dazu müssen Menschen Ambiguitätstoleranz, Empathie und Teamfähigkeit mitbringen.

Was Menschen aber nach wie vor brauchen werden, sind soziale und persönliche Kompetenzen.

Das Prestige des pädagogischen Berufs

Eva Niederegger: Sie sind seit 2022 Juniorprofessorin an der Technischen Universität Chemnitz. Wahrscheinlich erleben sie auch dort, dass pädagogische Berufe an Attraktivität verlieren. Die Einschreibungen an den Universitäten gehen zurück, immer weniger junge Menschen entscheiden sich für einen pädagogischen Beruf. Woran machen Sie dies fest und welche Maßnahmen könnten ergriffen werden, um den Anreiz der pädagogischen Berufe zu steigern und mehr Menschen für eine Karriere im Bildungsbereich zu gewinnen?

 

Barbara Gross: Das Prestige des pädagogischen Berufs hängt mit einer Vielzahl von Faktoren zusammen. Die gesellschaftliche Wahrnehmung einzelner Professionsinhaber*innen wird von eigenen Erfahrungen geprägt.

Kaum einen anderen Beruf können Menschen im Laufe des Lebens besser beobachten als jenen der Lehrperson. Das heißt auch, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Einzelne nicht nur positive, sondern auch negative Erfahrungen mit Lehrpersonen gemacht haben. Diese negativen Ereignisse setzen sich stärker im Gedächtnis fest als positive und beeinflussen schließlich die Wahrnehmung.

Studien zeigen, dass die Gesellschaft den Beruf allgemein zwar als positiv und wichtig einschätzt, einzelnen Berufsgruppen aber negative Attribute zugeschrieben werden. Es ist also notwendig, dass sich einerseits Pädagogen*innen und Lehrpersonen ihrem hohen Einfluss bewusst sind und andererseits gesellschaftlich für verallgemeinernde Zuschreibungen sensibilisiert werden. Zudem zeigt sich zum Beispiel auch, dass ein höherer Anteil an Frauen in einem Beruf mit einem geringeren Prestige einhergeht. Auch in diesem Sinne – zusätzlich zum Wert männlicher Bezugspersonen in Bildungsinstitutionen – wäre es wünschenswert, wenn mehr männliche Personen, auch Quer- und Seiteneinsteiger, für die pädagogische Arbeit gewonnen werden könnten.

Kindergärtner*innen und Lehrpersonen müssen angemessen vergütet werden; aber die Annahme, dass das Problem des Mangels an ausgebildetem Personal rein durch eine Erhöhung der Vergütung von Kindergärtner*innen und Lehrpersonen behoben werden könnte, lässt sich aus der Forschung sowie aus Vergleichen mit den Gehältern aus anderen Nationen nicht bestätigen. In Deutschland verdienen Lehrpersonen beispielsweise wesentlich mehr als in Italien, allerdings besteht auch in Deutschland ein akuter Lehrer*innenmangel.

 

Eva Niederegger: Im Grunde bleibt die zentrale Frage, mit der wir uns als Pädagog*innen immer wieder auseinandersetzen sollten: Warum habe ich diesen Beruf gewählt? Ich denke, eine ehrliche, persönliche Antwort und die vertiefte Auseinandersetzung damit versöhnen uns oftmals mit den großen Herausforderungen, denen wir tagtäglich begegnen. Und die Begleitung der Generation in die Zukunft bleibt wohl nach wie vor eine der spannendsten Aufgaben.

 

Barbara Gross: Bereits Wilhelm von Humboldt sagte:
„Nie ist das menschliche Gemüt heiterer gestimmt,als wenn es seine richtige Arbeit gefunden hat“.
Und das wünsche ich allen; insbesondere unseren Studierenden der Bildungs- und Erziehungswissenschaften, da sie einen wesentlichen Beitrag in der Entwicklungs- und Lernbegleitung von Individuen und damit für die Gestaltung unserer Zukunft leisten.

 

Eva Niederegger:

Herzlichen Dank, bleiben wir im Dialog …

Barbara Gross

  • ist Juniorprofessorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz
  • hat Bildungswissenschaften (Freie Universität Bozen) und Psychologie (Universität von Padua) studiert
  • ist Dozentin an der Freien Universität Bozen
  • hat an der Goethe-Universität Frankfurt und der Claudiana in Bozen/Università Cattolica del Sacro Cuore gelehrt
  • wurde an der Freien Universität Bozen in Allgemeiner Pädagogik, Sozialpädagogik und Allgemeiner Didaktik promoviert und erlangte 2022 die Habilitation in Italien für eine Professur der 2. Ebene.

Ihre Forschungsinteressen umfassen vor allem die sprachlich-kulturelle Diversität in Bildungsinstitutionen, Bildungs(un)gerechtigkeit und die Internationalisierung der Erziehungswissenschaft.

Eva  Niederegger
Eva Niederegger

Eva Niederegger ist Grundschullehrerin und Referentin für Deutschdidaktik in der Lehrer*innenausbildung in Südtirol, Vorsitzende des Katholischen Südtiroler Lehrerbundes (KSL)

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-ND.

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