
Was tun, wenn die Schwelle in das Schulgebäude unüberwindbar scheint?
Was tun, wenn Schüler*innen nicht in die Schule kommen wollen?
Als Beratungslehrerin begegne ich häufig Kindern, die den Schulbesuch über längere Zeitabschnitte oder ganz verweigern. Manche werden von ihren Eltern unter großem Aufwand in die Schule gebracht, verweigern dort jede Form von Arbeit und gehen wieder nach Hause.
Ich erlebe in diesen Situationen bei den Kindern und ihren Eltern eine große Hilflosigkeit und Verzweiflung. Auch für die Lehrer*innen, die ich begleite, stellt die Problematik der Verweigerung eine große Belastung im schulischen Alltag dar.
Gestaltung einer tragfähigen Beziehung
In meiner Arbeit geht es in solchen Krisensituationen in erster Linie um die Gestaltung einer tragfähigen Beziehung zwischen Schule, Eltern und Kind. Wenn hier ein guter Kontakt gelingt und eine Basis geschaffen wird, können auch schwierige Situationen zufriedenstellend gelöst werden.
Angst vor dem Schulbesuch ist ein hochkomplexes Thema, das nur sehr individuell angegangen und gelöst werden kann.
Viele Schüler*innen quälen sich mit schulischen Ängsten herum.
Sie ziehen sich zu Hause zurück. Es fehlt ihnen an Struktur und Halt. Die meisten fühlen sich einsam, vermissen Anerkennung und Wertschätzung sowie das Eingebundensein in eine Gemeinschaft. Die Eltern erleben sich als überfordert, ratlos und ohnmächtig. Gefühle wie Scham, Angst und Sorge sind ständige Begleiter in der Familie. Ein Teufelskreis entsteht.
Psycholog*innen unterscheiden zwischen Schulangst und Schulphobie.
Während es sich bei Schulphobie um eine Trennungsangst von nahen Bezugspersonen handelt und das Kind in der Entwicklung der Autonomie blockiert ist, steckt hinter Schulangst die Furcht vor schlechten Noten, die Angst zu versagen oder die Sorge von Mitschüler*innen oder Lehrpersonen bloßgestellt zu werden.
Wo auch immer die Ursachen liegen, ob innerhalb oder außerhalb von Familie oder Schule, wir müssen die Kinder mit ihren Ängsten ernst nehmen.
Um Kinder durch diese Krise zu führen, müssen wir zuhören und mit ihnen Wege finden, die einen Schulbesuch wieder ermöglichen. Dafür braucht es verantwortungsvolle Erwachsene, Eltern wie Lehrer*innen, die verstehen wollen, was das Kind durch sein Verhalten ausdrücken will.
Als Beratungslehrerin unterstütze ich diesen Prozess, indem wir zu dem Kind und seinem Bezugssystem Beziehung aufbauen und uns gemeinsam auf den Weg machen.
Ich sehe es dabei als wichtige Aufgabe, die Balance zwischen Mitgefühl und der Realität des Lebens zu finden. Aus meiner Erfahrung heraus haben sich folgende Haltungen und Handlungsschritte als hilfreich erwiesen:

Ein tragendes Netz
Wenn Lehrpersonen und Eltern es als gemeinsame Aufgabe sehen, Verantwortung für das Kind zu übernehmen, jeder für seinen Bereich, kann ein tragendes Netz entstehen. Durch eine engmaschige Zusammenarbeit können Unterstützungsmaßnahmen erarbeitet und der Blick auf die Ressourcen gerichtet werden. Es wird konkretisiert, was alle Beteiligten zur Entlastung und zur Veränderung der Umstände beitragen können. So kann das Kind durch das Engagement der Erwachsenen Rückhalt und Sicherheit erleben.
Du bist uns wichtig
Lehrer*innen können dem Kind ein klares Signal schicken und es spüren lassen: „Du bist ein Kind unserer Schule. Du bist uns wichtig. Du bist hier richtig.“
Durch kleine Beziehungsgesten von Lehrpersonen und Mitschüler*innen kann ein Eingebundensein und das Gefühl der Zugehörigkeit in dieser unsicheren Phase gefördert werden. Denn „Menschen brauchen Zugehörigkeit und Bezogenheit. Dieser Aspekt muss bei allen Handlungen mitgedacht werden. Wenn die Zugehörigkeit bedroht ist, reagieren Kinder ängstlich und aggressiv“, so die Psychologin Menges ( 2019, S.231)
Es darf da sein, was ist
In meiner Arbeit ist es mir wichtig, Kinder und Eltern mit ihren Sorgen ernst zu nehmen und anzuerkennen, wo sie gerade stehen. Ich schaffe einen sicheren Raum. Die Ohnmacht, die Angst, die Überforderung, aber auch der Ärger und Zorn aller Beteiligten dürfen da sein. Das ermöglicht ein „Sein können“, mit all den Schwierigkeiten, auch mit den schweren Gefühlen, die häufig unterdrückt werden, um das Kind zu schonen. Kinder haben feine Antennen. Sie spüren alle Gefühle im Raum. Und wir wollen auch dem Unausgesprochenen und dem inneren Erleben eine Sprache geben, um über die Realität zu sprechen, auch in der Anwesenheit des Kindes. So kann das Kind spüren, wo die Erwachsenen umgehen und was es mit ihnen macht.
Einladung zum Dialog
Für Jesper Juul steckt hinter jedem auffälligen Verhalten eines Kindes eine Einladung, die uns sagen will: „In meinem Sein ist es im Moment schwierig. Ich lade dich zu mir ein, damit wir darüber reden können. Mein Verhalten ist meine Einladung.“ (2019, S.144,)
Als Beratungslehrerin nehme ich diese Einladung an, indem ich mir Zeit nehme und nachfrage, wie es dem Kind geht. Ich möchte hören, was es so schwer macht und was es braucht. So kann es mit dem eigenen Dilemma da sein und spüren: „Es ist ok, so wie es ist. Ich bin ok, so wie ich bin.“
Wenn ich mich für die Geschichte dahinter interessiere und der Verzweiflung mit Empathie begegne, erlebe ich häufig, wie eine Brücke zwischen uns entsteht und das Kind ein Gefühl des Angenommen seins erlebt.
Eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen
Solange ein Kind Angst hat und unter Spannung steht, kann es nicht ankommen und lernen. Ein Kind, das als ganze Person, mit allen Gefühlen, wahrgenommen wird und Wertschätzung erlebt, kann Spannung loslassen und sich öffnen. Es liegt in der Verantwortung der Lehrpersonen für die Qualität der Beziehung und für eine vertrauensvolle Atmosphäre zu sorgen, damit das passieren kann.
Der Weg der kleinen Schritte
In dieser angespannten Zeit muss Druck und Tempo rausgenommen werden. Es braucht das Bewusstsein, dass Veränderung nicht von heute auf morgen geschieht. Konkret kann das realisiert werden, in dem umsetzbare Vereinbarungen mit dem Kind getroffen und auf das Mögliche reduziert werden. Nichts muss beschleunigt oder überstürzt werden.
Dadurch wird eine Überforderung vermieden und Kinder erfahren, dass es neben allen Schwierigkeiten auch etwas Mögliches zu tun gibt. Das Kind erlebt, dass es etwas beitragen kann. Auf diesem Weg kann es das innere Potential aktivieren, die Angst überwinden und schrittweise Autonomie zurückgewinnen.
Eltern, die Verantwortung übernehmen
Die Präsenz der Eltern und ihre Führung spielen in dem Prozess eine entscheidende Rolle. Sie sind der sichere Hafen, den das Kind zum Heranwachsen braucht. „Die elterliche Ankerfunktion muss wieder hergestellt werden. Ohne den Einsatz der Eltern lässt sich Schulverweigerung nicht bewältigen.“ (Streit, 2020, S.143) Es ist von großer Bedeutung, die Eltern dabei zu unterstützen, den regelmäßigen Schulbesuch einzufordern und die starken Emotionen der Kinder auszuhalten und zu halten.
Schulverweigerung fordert Schule heraus
Aber es fordert auch etwas ein, das manchmal zu kurz kommt: Unsere Menschlichkeit und unser Herz.
Das Mitwirken an Schule, als Ort der Menschlichkeit, in der positive Beziehungen auch in Krisensituationen als wichtigster Schutzfaktor in der Entwicklung des Menschen angesehen werden, empfinde ich als sehr wertvoll. In diesem Prozess erlebe ich, wie durch positive Beziehungen Unsicherheiten schwinden und Verbindung entsteht. Das bestärkt mich auf diesem Weg. Schließlich geht es nicht nur um das Kind, das sich wieder in der Schule zurechtfinden soll, sondern auch darum, wie es seine Lebenskompetenz und seine individuelle Art, zukünftige Lebenskrisen zu bewältigen, aufbaut und entwickelt.
Dabei einen Beitrag leisten zu können ist für mich Unterstützung im besten Sinn.
Literatur
- Jesper Juul: Respekt, Vertrauen und Liebe, 2019, Beltz Verlag
- Robin Menges: Selbst.Wert.Gefühl., 2019, Ennsthaler Verlag
- Philip Streit: Ich will nicht in die Schule, 2016, Beltz Verlag
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