Soziale Interaktion als zentrale Herausforderung des Lehrberufs
Der Lehrberuf zeichnet sich durch eine sinnvolle und ganzheitliche Arbeitsaufgabe, ein hohes Maß an Autonomie und Eigenverantwortung sowie flexible Arbeitsstrukturen aus. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Lehrpersonen mehr Stress am Arbeitsplatz aufweisen als andere Berufsgruppen. Zu den Buchtipps
Dies ist darauf zurückzuführen, dass Lehrpersonen vor der sehr anspruchsvollen Aufgabe stehen, soziale Interaktionen zu gestalten. Lehrpersonen organisieren das Lernen der Schüler*innen und steuern die sozialen Interaktionen im Klassenzimmer. Eine hohe Interaktionsdichte und ein Mangel an Rückzugsmöglichkeiten machen den Unterricht anspruchsvoll. Da die Interaktionen im Klassenzimmer aufgrund ihrer hohen sozialen Dichte, Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit, Unvorhersehbarkeit, Informalität und Öffentlichkeit sehr komplex sind, sind sie anfällig für Störungen. Lehrpersonen müssen schnelle Entscheidungen treffen und können sich kaum zurückziehen (Wettstein & Scherzinger, 2022). Im Klassenzimmer sind die Lehrpersonen mit zwanzig oder mehr Individuen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, verschiedenen Problembereichen, dynamischen Situationen und vielfältigen Anforderungen konfrontiert und handeln unter Druck (Wettstein & Scherzinger, 2022). Gleichzeitig beobachten die Schülerinnen und Schüler ihre Lehrperson aus einer weitgehend handlungsentlasteten Perspektive heraus und erleben als Beobachter*innen, wie die Lehrperson mit anderen Schülerinnen und Schülern interagiert.
Herausforderndes Schüler*innenverhalten
Eine Hauptquelle für den Stress von Lehrpersonen ist herausforderndes Verhalten von Schüler*innen. Der Begriff „Verhaltensauffälligkeit“ verortet die Störungen auf der Seite der Lernenden. Es sind also die Schülerinnen und die Schüler, welche den Unterricht stören. Oft werden einzelnen Kindern dabei kaum veränderbare Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben. Mit solchen Etikettierungen wird jeder Versuch, Störungen zu bewältigen, von vorneherein ad absurdum geführt. Man kann nicht verändern, was als unveränderbar angenommen wird.
Eine Beobachtungsstudie von Wettstein und Kollegen (2018) zeigt zudem, dass Lehrpersonen den Unterricht ebenso häufig stören wie einzelne Kinder, indem sie z. B. schlecht vorbereitet oder zu spät zum Unterricht erscheinen, unklare Aufträge erteilen oder die Schülerinnen und Schüler in konzentrierten Arbeitsphasen unterbrechen. Darüber hinaus können Lehrpersonen auch selbst zu Störungen im Unterricht beitragen, indem sie ungünstig auf das herausfordernde Verhalten von Schülerinnen und Schülern reagieren und so die Situation ungewollt verschlimmern (Scherzinger & Wettstein, 2022).
Unterrichtsstörungen als interaktionales Problem
Es ist wenig hilfreich, Störungen einseitig den Lehrpersonen oder aber den Schülerinnen und Schülern zuzuschreiben. Als weitaus produktiver erweist sich ein interaktionales Verständnis von Unterrichtsstörungen. Im Unterricht begegnen sich zwei unterschiedliche Arten von Handelnden. Auf der einen Seite die Lehrperson, welche ein Unterrichtsangebot plant und versucht, Lernprozesse auszulösen. Auf der anderen Seite die Schülerinnen und Schüler, die dieses Unterrichtsangebot nutzen können und eine Mitverantwortung tragen. Das sogenannte Angebot-Nutzungsmodell von Helmut Fend weist auf den interaktionalen Charakter von Unterricht hin und entlastet die Lehrperson von der alleinigen Verantwortung für einen gelingenden Unterricht. Denn das beste Unterrichtsangebot der Lehrperson ist wirkungslos, wenn dieses von den Schülerinnen und Schülern nicht genutzt wird.
In diesem Sinne werden Unterrichtsstörungen als eine Störung des Lehr-Lern-Prozesses definiert. Unterrichtsstörungen sind durch eine Arbeitsatmosphäre gekennzeichnet, die durch Unterbrechungen, Unkonzentriertheit und Unruhe geprägt ist. Dabei kann eine Störung sowohl von Schülern und Schülerinnen als auch von der Lehrperson ausgehen. Der Begriff Unterrichtsstörung geht jedoch über das individuelle Verhalten der Interaktionspartner hinaus und betrachtet das Unterrichtssetting ganzheitlich aus einer interaktionalen Perspektive.
Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen
In unserem Buch „Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen“ (Wettstein & Scherzinger, 2022) gehen wir der Frage nach, wie Unterrichtsstörungen entstehen, und zeigen auf, wie Lehrpersonen diese erfolgreich bewältigen können. Dabei nähern wir uns Unterrichtsstörungen aus einer interaktional-verstehenden Perspektive und verdeutlichen, wie Lehrpersonen Unterrichtsstörungen durch diagnostische Kompetenz, eine gute Beziehung zu den Lernenden, Klassenführung und eine störungspräventive Unterrichtsgestaltung wirksam begegnen können:
Diagnostische Kompetenz: Unterrichten ist vielfältig, komplex und anspruchsvoll. Im Unterricht geschieht vieles gleichzeitig. Dadurch sind Lehrpersonen stark gefordert. Wir unterstützen Lehrpersonen, Störungen mit Hilfe von Beobachtungssystemen differenziert zu erfassen. Denn erst wenn man merkt, was im Unterricht abläuft, kann man sinnvoll auf Störungen reagieren.
Aufbau einer guten Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung: Schule ist kein Ort, an dem nur Leistungshaltungen trainiert werden. Schule ist auch eine wichtige Sozialisationsinstanz und ein Ort der Begegnung. Eine Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung, welche von einem freundlichen Umgangston, wechselseitigem Respekt, Herzlichkeit und Wärme geprägt ist, eine Beziehung, die authentisch ist und in der auch mal gelacht werden kann, beugt Unterrichtsstörungen vor und wirkt sich förderlich auf die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler aus (Scherzinger & Wettstein, 2022).
Störungspräventive Klassenführung: Oft denkt man bei Störungen vor allem darüber nach, wie man im Nachhinein reagieren kann. In der Ausbildung von Lehrpersonen wird hingegen der Akzent vor allem darauf gelegt, wie man bereits im Vorhinein verhindern kann, dass viele Störungen auftreten. Es geht also weniger darum, mit Störungen fertig zu werden, sondern diese so weit wie möglich zu verhindern (Siwek-Marcon, 2022).
Störungspräventive Unterrichtsgestaltung: Ein anregender und ausreichend individualisierter Unterricht beugt Störungen vor. Wenn es der Lehrperson gelingt, die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder ausreichend zu berücksichtigen, wenn sie im Unterricht klar kommuniziert und strukturiert und die Zeit nutzt, können viele Störungen vermieden werden. Wenn Lehrpersonen Störungen nicht mehr als unveränderbare Eigenschaft von Schülerinnen und Schülern, sondern als veränderbares interaktionales Problem des Unterrichts verstehen, eröffnen sich zahlreiche Handlungsmöglichkeiten für einen produktiven Umgang damit.
Gleichzeitig erweist sich die Idee, mit ausreichendem pädagogisch-didaktischem Wissen und Können ließe sich ein störungsfreier Unterricht produzieren, als Illusion. Unterricht ist komplex und läuft nie völlig störungsfrei ab. Lehrpersonen müssen deshalb ein Gleichgewicht zwischen gesunder Selbstkritik und einem gelassenen Umgang mit unvermeidlichen Unzulänglichkeiten in der Unterrichtsgestaltung finden und lernen, auch kleine Erfolge zu schätzen. Weiter betrifft der Umgang mit Störungen nicht nur einzelne Lehrpersonen, sondern ist ein Schulentwicklungsthema, welches am besten gemeinsam angegangen wird. Im Mittelpunkt unserer Forschung steht dabei immer das Anliegen, Lehrpersonen darin zu unterstützen, im Beruf gesund zu bleiben. Denn nur gesunde Lehrpersonen können einen anregenden Unterricht gestalten und die Schülerinnen und Schüler angemessen fördern.
Weiterführende Buchtipps
- Scherzinger, M. & Wettstein, A. (2022). Beziehungen in der Schule gestalten. Für ein gelingendes Miteinander. Stuttgart: Kohlhammer.
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Siwek-Marcon, P. (2022). Klassenführung durch Beziehung. Grundlagen und Handlungsstrategien. Stuttgart: Kohlhammer.
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Wettstein, A. & Scherzinger, M. (2022). Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen (2. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
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Wettstein, A., Scherzinger, M. & Ramseier, E. (2018). Unterrichtsstörungen, Beziehung und Klassenführung aus Lehrer-, Schüler- und Beobachterperspektive. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 65(1), 58–74.
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