Die Struktur der modernen Literatur
Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik
„Fahr wohl, Schiff, segle dahin mit freundlichen Winden.“ – Mit diesem Geleitwort, mit welchem antike Autoren ihr Werk auf die Wellen hinausschickten, hin zu einer unbekannten Leser*innenschaft, lädt der Schweizer Professor Dr. Mario Andreotti in seinem Vorwort zur bereits sechsten stark erweiterten und aktualisierten Auflage von „Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik“ (die erste Auflage erschien 1983) ein, sich mit ihm auf eine literarische Reise zu begeben. Diese führt in die Welt des geistigen und gesellschaftlichen Wandels seit 1900, der in der modernen Literatur seinen Ausdruck findet. In dieser kommen das neue Selbstverständnis des Menschen, aber auch seine veränderte Wirklichkeitserfahrung zum Ausdruck.
In dem insgesamt zwölf Kapitel und 405 Seiten umfassenden Werk wird die Möglichkeit geboten, in eine Zeit des wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen, geistigen sowie künstlerischen Umbruchs mit gewaltigen Auflösungsprozessen, welche die moderne Literatur beeinflussen, einzutauchen, sich auf den Versuch einzulassen, mit moderner Literatur in Resonanz zu treten, und somit den eigenen Bewusstseinsstrom, die eigene Weltsicht zu erweitern.
Dieser Anspruch fordert heraus, gilt doch moderne Höhenkammliteratur aufgrund ihrer komplexen Struktur als schwierige Lektüre. Auch entspricht moderne Literatur dem oftmals vorherrschenden Bedürfnis vieler Leser*innen nach Ausgleich und Harmonie nicht.
Andreotti betont: „Gerade die literarische Moderne rückt, indem sie, anders als die das Leben harmonisierende bürgerliche Dichtung mit ihrem Entwurf einer utopischen Gegenwelt, das Hässliche und Widerwärtige miteinbezieht und so Kunst und Leben zusammenzubringen versucht, die historische und gesellschaftliche Bedingtheit der Literatur radikal ins Blickfeld“ (S. 73).
Dabei kann ein Werk aber nicht automatisch nach dem Erscheinungsjahr in traditionelle oder moderne Literatur eingeteilt werden, sondern anhand struktureller Veränderungen in der Gestaltung der literarischen Figuren und deren Wirkungsabsicht, des Sprachstils und der fiktionalen Wirklichkeit im Text.
Moderne Texte werden vorwiegend als gestische Texte definiert. In ihnen ist, im Unterschied zu prämodernen Texten, häufig nicht mehr eine einzelne Heldenfigur, sondern ein Geflecht von Gestus von menschlichen Grund- und Kollektivhaltungen strukturbestimmend. Zentrale Forderung für die Interpretation moderner Lektüre ist, in dieser jeweils nicht von irgendeinem Interpretationsraster, sondern konsequent vom Text selbst, d. h. von der Organisation seiner Elemente, seiner Struktur, auszugehen. Konkret bedeutet dies, „moderne Texte nicht einfach als eine Summe von Einzelelementen, die sich mehr oder weniger isoliert betrachten lassen, sondern als ein Netz von Beziehungen, also paradigmatisch zu lesen“ (S. 36).
Das nun 2022 in einem größeren Buchformat erschienene Werk bietet einen vielfältigen Einblick in die Situation der Dichtung im 20. und 21. Jahrhundert, wobei „Moderne Literatur“ eingangs einer Begriffsbestimmung nach neuen, ganzheitlichen Kriterien unterzogen wird. In dem Band werden Vorläufer der modernen Dichtung thematisiert, deutsche Literatur von 1900 bis zur Gegenwart dargestellt und Auswirkungen der geistigen Kräfte unserer Epoche auf die moderne Literatur besprochen.
Erzählungen in der modernen Prosa sowie moderne Lyrik werden mit Blick auf Gattungsform bzw. Literaturgeschichte eingehend behandelt, zahlreiche Beispiele unterschiedlicher Genres, wie beispielsweise Popliteratur, Rap, Beatboxing, Slam Poetry, digitale Literatur, Handyroman, Twitter-Lyrik, vorgestellt.
Im letzten Kapitel werden zwölf Kriterien, die zu einer ästhetischen Qualität eines literarischen Textes beitragen, genannt; ein ausführliches Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen, Anmerkungen und ein Namensregister runden die informativen Ausführungen ab. Arbeitsvorschläge (mit Lösungshinweisen) zu den Kapiteln sind im Internet abrufbar.
Andreottis Neuauflage von „Die Struktur der modernen Literatur“ beeindruckt durch präzise klare Ausführungen, tabellarische Auflistungen zeitgeschichtlicher Bedingungen und geistiger Kräfte sowie deren Auswirkungen auf moderne Literatur, Darstellung der Gattungsformen nach ihrer tendenziellen Zugehörigkeit zur literarischen Tradition bzw. zur Moderne. Insgesamt befördert das Buch nicht nur ein grundlegendes Verständnis für moderne Literatur, sondern weist zudem vielfältige exemplarische Beispiele aus der modernen Prosa und auch der Lyrik auf. Die literarische Reise quer durch die moderne Literatur wird mit dieser umfassenden und ganzheitlichen Betrachtungsweise somit zu einer spannenden und gewinnbringenden Expedition.
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