In Kontakt mit mir und der Welt - Jugendliche unterstützen mithilfe der Gestaltpädagogik
Selbstregulation und Co-Regulation bei Jugendlichen
Regulation als psychologischer Begriff bedeutet, sich in den inneren und äußeren Stürmen des Lebens immer wieder physisch und emotional zu balancieren. Kinder benötigen – mit zunehmendem Alter immer weniger – die Co-Regulation durch Erwachsene, die sie versorgen und sich um sie kümmern. Jugendliche haben im Idealfall schon gut gelernt, sich selbst zu regulieren, um den Anforderungen dieser Lebensphase gewachsen zu sein. Diese sind etwa, sich abzunabeln, die Welt in immer weiterem Radius zu erkunden, ihre Bezugsgruppen selbst zu bestimmen, Liebesbeziehungen zu erleben, ihr Selbstverständnis zu entwickeln, ihre Aufgaben und ihren Platz im Leben zu suchen.
Jugendliche, wie alle Menschen, benötigen auch immer wieder Co-Regulation, wenn die Anforderungen, die Widersprüche, die Verunsicherungen des Lebens als überwältigend erlebt werden. In diesem Fall geraten Menschen in Krisen, in existentiell erlebte Verunsicherungen. Das bedeutet, dass Gewohntes, als sicher Erlebtes oder Existenzsicherndes sich plötzlich oder allmählich auflöst, unterbrochen oder zerstört wird. Menschen geraten in Krisen, wenn die vorhandenen psychischen, sozialen und materiellen Mittel nicht ausreichen oder ausreichend erscheinen, um die Herausforderungen zu bestehen, um die Gefährdung abzuwenden oder um die Verletzung zu überleben. In den letzten Jahren kamen und kommen globale, gesellschaftliche, politische Krisen, die alle Menschen betreffen und berühren, zu den Krisen der jugendlichen Lebensphase, zu familiären und persönlichen Krisen, zu Krisen durch ökonomisch und sozial prekäre Lebensverhältnisse und durch Diskriminierungserfahrungen hinzu.
Jugendliche haben im Idealfall schon gut gelernt, sich selbst zu regulieren, um den Anforderungen dieser Lebensphase gewachsen zu sein.
Das Arbeitskonzept
Für die beiden Seminare entwickelten wir ein Arbeitskonzept mit Ansatzpunkten zu Begleitung und Interventionen.
Dabei gingen wir davon aus, dass Jugendliche insbesondere während der Corona-Krise große Verunsicherungen und Einschränkungen erlebt haben in Bezug auf ihre körperlich-psychische Existenz (etwa durch Erkrankungsangst, Angst, andere anzustecken, wenig Bewegung), in Bezug auf ihre Möglichkeiten der Welterkundung (durch Lockdowns, Reiseeinschränkungen, Sperrung von Freizeiträumen) und in Bezug auf ihre sozialen Kontakte (durch Kontaktbeschränkungen, Fehlen von sozialen Räumen, in denen Konfliktfähigkeit und Beziehungsgestaltung erlernt werden).
Daran anknüpfend arbeiteten wir mit den Dimensionen: Körper – Raum – Beziehung:
- Wie lassen sich körperlich-psychische Verstörungen, Verunsicherungen, Verluste nachholen, regulieren, ausgleichen?
- Wie lassen sich Räume erleben, erkunden, bewohnen, beleben? Wie lassen sich Bindung, Beziehungen, Kontakte, Begegnungen und Konflikte erleben, aushalten und gestalten?
- Wie lassen sich Lebensprozesse durchleben, auch durchleiden, in denen Eigenständigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Selbstausdruck erlernt werden?
Dem folgend benannten wir als prozessorientierte Handlungsprofile: auswickeln, gestalten, pflegen, lösen. Prozesse gehen von bereits Vorhandenem, Geprägtem, von Bedingungen und Einflussfaktoren aus, die zunächst „ausgewickelt“ werden. Damit meinen wir: aufgerollt, erforscht, diagnostiziert. Von da aus führt der Weg ins Gestalten, mit Hilfe des Vorhandenen, mit Wünschen, Kreativität und neu Hinzukommendem. Selbstwirksamkeit und Sinnerfüllung werden erfahrbar. Parallel dazu geht es darum, das Vorhandene und Gestaltete zu pflegen, zu erhalten und zu versorgen. Sorgsamkeit und Achtsamkeit sind gefragt. Spätestens am Ende von Prozessen sind wir herausgefordert, uns zu lösen, zu verabschieden, zu entscheiden, was weiter mitgenommen und was losgelassen bzw. entsorgt wird.
Der Gestaltansatz im Arbeitskonzept
Eine der oben benannten, von uns herangezogenen Herangehensweisen ist die Gestalttherapie bzw. -pädagogik. Sie gehört ins Spektrum der humanistischen Therapieansätze, die auf einem ressourcenorientierten, optimistischen Menschenbild beruhen.
Menschen tendieren dazu, ganzheitliche Gestalten wahrzunehmen. Wenn wir etwa einige Striche sehen, versucht unsere Vorstellung, sie zu einem sinnhaften Ganzen zu verbinden. Sinn ergebende Gestalten zeichnen sich in unserer Wahrnehmung auf einem Hintergrund ab bzw. treten daraus hervor. In der Gestalttherapie werden unbefriedigte, verletzte Bedürfnisse und Impulse als unvollendete Gestalten betrachtet, die sich aus dem Hintergrund des Unbewussten in den Vordergrund des Bewusstseins schieben. Der:die Pädagog:in/Therapeut:in begleitet dabei, sie zu erkunden und neue Lebensgestaltungsansätze zu schaffen.
- Die Dimension Körper ist in der Gestalttherapie oft Ausgangspunkt der Selbsterkundung: Wo spürst du das, was dich beschäftigt, in deinem Körper? Wie spürst du es?
- Die Dimension Raum wird methodisch genutzt. Die Gestalttherapie verwendet dabei systemische Methoden wie Aufstellungen und Timelines. Die gestaltspezifische Methode ist der leere Stuhl, die ebenfalls Räumlichkeit nutzt. Man setzt einen inneren Anteil auf einen Stuhl sich selbst gegenüber.
- Kontakt ist ein weiterer zentraler Begriff in der Gestalttherapie. Sie geht davon aus, dass psychische Erkrankungen und Störungen, so wie auch ganz alltägliche psycho-soziale Schwierigkeiten, von unterbrochenem oder verunsichertem Kontakt mit uns selbst, mit anderen, mit der Welt ausgehen. Kontakt ist der erste Schritt zur Beziehung. In der therapeutischen/pädagogischen Beziehung wird co-reguliert, begleitet, werden schwere Situationen gehalten, Entwicklungen angeregt. Die Ermöglichung von Kontakt und Beziehung mit sich, der Welt, anderen Menschen ist ein wesentliches Anliegen der Gestalttherapie. Mit diesem Gestaltansatz, orientiert an den Handlungsprofilen, lassen sich Methoden für die Arbeit mit Jugendlichen in Krisen konkretisieren.
Auswickeln heißt zunächst, den Themen auf die Spur zu kommen und die Anliegen, an denen gearbeitet werden soll, zu identifizieren. Dafür bieten sich biografische Methoden an, Fragetechniken aus der klientenzentrierten Gesprächsführung und der systemischen Therapie/Pädagogik, der leere Stuhl, körperorientierte Methoden, Spiele, Wahrnehmungstrainig, Reflexion.
Beim Gestalten – Neues ausprobieren, verändern, neu orientieren – dienen künstlerische Herangehensweisen, Experimente, um Neues auszuprobieren. Zum Pflegen gehört die Selbstregulation etwa mittels Achtsamkeitsmethoden, Entspannungstechniken, sorgsam ausgeführten Tätigkeiten der alltäglichen Versorgung (z.B. kochen) und – von der Verhaltenstherapie inspiriert – das Trainieren von Regelmäßigkeiten (Bewegung, Schlaf, …).
Beim Lösen geht es um Transferübungen und Reflexion. Was nehme ich mit, was adaptiere ich in mein Leben, wie löse ich mich von nicht mehr Benötigtem? Geübt wird bewusstes und sorgsames Verabschieden.
Nimmt eine Krisenbewältigung einen konstruktiven Verlauf, schließt sich eine offene Gestalt. Bewältigungsstrategien werden hinzugewonnen und die Person macht die identitätsstärkende Erfahrung, eine Schwierigkeit zu meistern.
Literatur
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Paschmann, Arno (1993): Krisen und Krisenintervention, Moers
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Perls, Fritz (201515): Grundlagen der Gestalt-Therapie. Einführung und Sitzungsprotokolle, Klett-Cotta: Stuttgart.
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