
Emotionale Stabilität für Handlungsfähigkeit
Eva Niederegger: Lehren sei der größte Akt des Optimismus, sagte Colleen Wilcox, ehemalige Direktorin der Alliance for Teaching, als man sie fragte, welches das wesentliche Element guten Unterrichts sei. Was sagen Sie dazu? Warum kommt den Pädagoginnen und Pädagogen manchmal der „Akt des Optimismus“ abhanden?
Reinhard Tschiesner: Wenn Lehrpersonen sich entscheiden zu unterrichten, dann drücken sie implizit bereits ihre Zuversicht an die Möglichkeit einer positiven Veränderung im Kinde aus. Es bedeutet auch, dass man trotz möglicher Herausforderungen und Rückschläge daran glaubt, dass alle Schülerinnen und Schüler Fähigkeiten haben und diese ausschöpfen können und dass somit die eigenen Bemühungen, das Engagement einen Unterschied im Leben der Kinder machen können. In schwierigen Fällen kann dies viel Zeit, Energie und Ressourcen kosten und auch mal dazu führen, dass der Optimismus verloren geht, weil zum Beispiel ein Gefühl der Überforderung hochkommt aufgrund von sehr herausforderndem Schülerverhaltensweisen, hoher Arbeitsbelastung, unzureichender Unterstützung, usw. Eine generelle Zuversicht schadet aber auch in schwierigen Situationen nie, im Gegenteil: Sie kann ein zentrales Element der Wider-
standskraft einer Lehrperson sein.
Eva Niederegger: Sie sagt weiter, es gäbe keine Magie in den Klassenzimmern, sondern ein wesentliches Element eines gut funktionierenden Unterrichts sei die Exzellenz der Lehrpersonen. Welche sogenannten „SoftSkills“ in pädagogischen Berufen werden heutzutage benötigt, um „exzellent“ wirken zu können, wenn wir die fachlichen Kompetenzen außen vorlassen?
Reinhard Tschiesner: Auch John Hattie, ein renommierter Bildungsforscher, betont die Bedeutung von Soft Skills für Lehrpersonen. Dazu gehören eine gute Kommunikationsfähigkeit, Empathie und soziale Kompetenz, aber auch die eigene Anpassungsfähigkeit und Selbstreflexion der Lehrperson sowie eine grundlegende „Management“- und Begeisterungsfähigkeit. Eine spürbare Begeisterung und Kreativität der Lehrperson kann zum Beispiel dazu beitragen, ein positives und motivierendes Lernumfeld zu schaffen. Sie machen den Unterricht inspirierend und lebendig und fördern die Freude am Lernen. Nicht zuletzt ist auch eine „emotionale Stabilität“ bei der Lehrperson zentral, damit meine ich die Fähigkeit, auch in einer herausfordernden Situation mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit Kolleginnen und Kollegen, sich nicht von eigenen Emotionen überwältigen zu lassen und handlungsfähig zu bleiben.

Das "Brennen" kann ein zweischneidiges Schwert sein
Eva Niederegger: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich unter anderem mit dem Burnout in pädagogischen und helfenden Berufen. Die meisten Pädagoginnen und Pä-dagogen lieben, ja „brennen“ für ihren Beruf und erhaltensich ihre Belastbarkeit auch bis zum Ruhestand. Dennoch ist beobachtbar, dass sich immer häufiger Kolleginnen und Kollegen, auch Berufseinsteiger/innen, nicht mehr leistungs- bzw. widerstandsfähig fühlen. Wie kann jede*r Einzelne oder auch das Team bzw. Kollegium diesem Phänomen entgegenwirken?
Reinhard Tschiesner: Das „Brennen“ kann ein zweischneidiges Schwert sein. Wenn aus einer gesunden Leidenschaft für den Beruf ein Brennen wird, bei dem die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt werden und man über das normale Maß hinausgeht, Warnsignale des Körpers und aus der Umwelt unterdrückt, ist dies aus psychopathologischer Sicht ungünstig. Daher ist es wichtig, dass Pädagoginnen und Pädagogen ein gesundes Gleichgewicht zwischen ihrem Engagement und ihrer Selbstfürsorge finden. Wir wissen, dass nur die- oder derjenige "ausbrennen" kann, also in einen Burnoutprozess rutschen kann, der einmal „gebrannt“ hat. Trifft der Fall ein, dass eine Lehrperson in einen belastenden Erschöpfungszustand gerät, können auf verschiedenen Ebenen Handlungsmöglichkeiten ergriffen werden. Kolleginnen und Kollegen können als unterstützende 'Buddies' fungieren, indem sie ihre Sorge um jemanden ausdrücken und ihn oder sie ermutigen, Hilfe anzunehmen oder sich gegenseitig bestmöglich zu unterstützen. Auf der Ebene der Schulleitung ist es entscheidend, nicht nur bei auftretenden Problemen für das Wohl der Mitarbeitenden zu sorgen, sondern auch präventiv die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass das Arbeitsumfeld möglichst wenig Belastungen verursacht. Ein positives Schulklima ist zentral.
Daher ist es wichtig, dass Pädagoginnen und Pädagogen ein gesundes Gleichgewicht zwischen ihrem Engagement und ihrer Selbstfürsorge finden.
Eva Niederegger: Und wie sieht es bei den Kindern aus? Wir bemühen uns darum, Kindergarten und Schule als Räume des konstruktiven Miteinanders zu gestalten und dabei sowohl die Beziehungsqualität als auch die wertschätzende Kommunikation zu stärken. Was ist Ihrer Meinung nach wichtig, damit Kinder psychisch dauerhaft gesund bleiben und ihr Wohlbefinden gestärkt wird?
Reinhard Tschiesner: Sie haben einen wichtigen Begriff bereits genannt, nämlich den Begriff „Beziehung“. Sehr viele Persönlichkeitsmerkmale entstehen durch internalisierten Beziehungserfahrungen. Man nennt diese Strukturen, die durch das Internalisieren von Episoden zwischenmenschlichen Verhaltens entstehen, auch Beziehungsrepräsentanzen. Diese sind als eine Wissens-struktur über andere Menschen oder Objekte zu verstehen. Das Wissen, das von Verlässlichkeit, Freundlichkeit, emotionaler Wärme und Vorhersehbarkeit geprägt ist, kann in schwierigen Lebenssituationen zur Emotionsregulation herangezogen werden. Sie erkennen hier wahrscheinlich auch eine Analogie zur Bindungsentwicklung. Das Wissen, dass ich eine Bezugsperson habe, ermöglicht es mir, mich von der Bezugsperson mal abzuwenden und Neues zu entdecken. Das funktioniert aber nur, wenn ich weiß, dass es jemanden gibt, der mir emotional und/oder physisch Sicherheit bieten kann. Wir dürfen hier die Rolle der Schule nicht überschätzen. Die Studien sagen klar, dass das Mikrosystem Familie den stärksten Einfluss auf die kindliche Entwicklung hat, aber dem Bildungssystem eine moderierende Funktion zukommt. Wie stark dieser moderierende Effekt ist, hängt von der Qualität der Ausbildung der Lehrenden ab. Das heißt konkret, dass gut ausgebildete Pädagogen*innen ungünstige familiäre Lern- und Entwicklungsverläufe positiv beeinflussen können, wenn sie in der Lage sind, solche zu erkennen und den Schülerinnen und Schülern entsprechende Beziehungsangebote zu machen, um Beziehungsrepräsentanzen zu schaffen, die dann die Entwicklung einer gesunden und stabilen Persönlichkeit ermöglichen.

Schule auf verschiedensten Ebenen stärken
Eva Niederegger: …und wie und wann können wir erste Signale erkennen, dass das Wohlbefinden der Kinder
womöglich beeinträchtigt ist, und die nötige, passende Unterstützung anbieten?
Reinhard Tschiesner: Das können wir über den Emotionsausdruck oder über kindliches Verhalten erkennen. Verhalten und Emotionsausdruck sind nicht spontan. Es gilt also zu erkennen, welche Bedürfnissysteme sich hinter Verhaltensweisen verbergen, die uns besonders auffallen. Eine Unterrichtsstörung fällt z.B. sofort unangenehm auf, aber die Unterrichtsstörung ist, wenn man so will, nur ein Überbau eines zugrundeliegenden Bedürfnissystems des Kindes und manifestiert sich in den Diensten eines vernachlässigten Bedürfnisses. Konsequenterweise muss hier auf das Bedürfnis hinter dem Verhalten reagiert werden, um somit optimale Lern- und Entwicklungsbedingungen für das Kind zu schaffen. Das Signal erkennen und richtig zu reagieren, geht also Hand in Hand.
Eva Niederegger: Bei den Diskussionen, was unsere Bildungseinrichtungen heute brauchen, wird meist über Personalmangel, Defizite der Schüler*innen in gewissen Kompetenzbereichen, Anhebung der Gehälter (welche dringendst notwendig ist!), Organisation und Rahmenbe-
dingungen sowie über die Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen diskutiert. Weniger stehen dabei die Hauptdarsteller im Mittelpunkt, die Kinder. Wo sehen Sie Handlungsbedarf, damit wir auch in Zukunft ein attraktives Bildungssystem bieten können und wie kann es uns gelingen? Wie können wir dabei die Bedürfnisse der Kinder ins Zentrum rücken?
Reinhard Tschiesner: Richtig, es geht um die Kinder. Und die Lehrperson soll die Entwicklung des Kindes positiv beeinflussen. Die Schule auf verschiedensten Ebenen zu stärken, ist also eine sehr wichtige Investition in die Entwicklung der Kinder. Viele Punkte, die Sie in
der Frage genannt haben, stehen somit in einem direkten Zusammenhang. Auch die Entlohnung der Lehrperson.
Wir dürfen als Gesellschaft nicht nur über den Wert der Bildung sprechen, sondern müssen auch bereit sein, entsprechend Mittel in die Hand zu nehmen und den bedeutsamen Stellenwert dieser Berufsgruppe anerkennen. Die Pädagogen*innen sind als die Speerspitze
des Bildungssystems zu sehen. Sie sind in der Lage, die Bedürfnisse der Kinder aufzugreifen und die Persönlichkeit sowie das Potential eines jeden Kindes zu fördern.
Eva Niederegger: Herzlichen Dank, bleiben wir im Dialog…
Blick über den Brenner
Dieser Beitrag ist ein Artikel aus der Zeitschrift KSL - Akutell (Ausgabe April 2025). "Im Dialog" ist eine Reihe von KSL - Aktuell. In jeder Ausgabe der Zeitschrift, erscheint in dieser Rubrik ein Dialog mit einer anderen Gesprächstpartnerin, einem anderen Gesprächspartner zu Bildungsthemen.
Mehr über den KSL, den Südtiroler Verband der Lehrpersonen und pädagogischen Fachkräfte gibt es hier.
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