Ein Stück Butter

Es war ein Satz meines Vaters, der mich vor bald zwanzig Jahren zum ersten Mal Ja sagen ließ, als sich mir die Möglichkeit bot, als Journalist über einen Krieg zu berichten. „Du hast keine Ahnung, was ein Stück Butter für uns bedeutet hat.“ Dieser Satz meines Vaters, ein Satz, den viele heute noch von ihren Eltern oder Großeltern kennen, wenn sie vom Krieg und der Nachkriegszeit sprechen, hat mich als Sechsjährigen fasziniert. Ich wollte verstehen, was er damit meinte. Ich wollte verstehen, warum Butter, Essen, etwas so Selbstverständliches für uns zu Hause, etwas so Wertvolles sein kann, dass mein Vater diesen Satz regelmäßig von sich gab. Heute habe ich verstanden, was er damit gemeint hat. 

Demut vor dem Leben, das ich führen darf

Über Jahre habe ich die dunkelsten Flecken dieser Welt bereist und habe jene Orte aufgesucht, von denen wir so gerne nichts hören und lesen würden. Es sind Orte, die durch ihren Schrecken, durch den allgegenwärtigen Tod, einer unbeschreibliche, bestialische Gewalt, als Schlagzeilen kurz Einzug in unseren Alltag halten, nur um so schnell wie möglich, nach einem kurzen, entsetzten, aber doch von Neugierde getriebenen Blick, wieder bei Seite gelegt und vergessen zu werden.

Diese Orte habe ich besucht. Sei es in Kriegen, wie im ehemaligen Jugoslawien, in Afrika, in Afghanistan, dem Irak oder der Sahelzone. Seien es Orte, die durch den Vernichtungswillen des Menschen zur Hölle auf Erde geworden sind, seien es Orte, die durch Naturgewalten unvergleichlichen Ausmaßes zerstört wurden. Allen ist gleich, dass sie den Bildern von Hieronymus Bosch gleichen.

Erlebt man diese Hölle als Mensch aus einer heilen Welt, verändert sich das eigene Leben. Auf jeder dieser Reisen habe ich ein Stück meiner Seele zurückgelassen. Das ist der Preis, den ich für meine kindliche Neugierde bezahlen musste. Wir alle, die wir dort waren, haben diesen Preis bezahlt. Ich habe Kollegen getroffen, die zu viel ihrer Seele im Anblick der Toten und Entstellten, der Missbrauchten und Geschändeten, auch der eigenen Hilflosigkeit in diesem Moment zurückgelassen habe. Sie haben zu oft Kinder gesehen, die vor ihnen verhungert sind, zu oft erlebt, wie machtlos wir dem Schicksal ausgeliefert sind, das jederzeit und überall auf dieser Welt mit einer unglaublichen Brutalität, gnadenlos und ohne Maß über Unschuldige hereinbrechen und den Mensch zerstören kann. Der Anblick, das Erleben hat sie ausgehöhlt. Die Leere haben sie häufig mit Alkohol, mit Zynismus gefüllt. Ich habe diese Leere mit Demut ausgeglichen. Demut vor dem Leben, das ich führen darf. Demut vor dem, was für uns so selbstverständlich ist. Eine Demut, die viele hier nicht verstehen können. 
 

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Eine große Menge 1-Dollar-Scheine liegen ungeordnet da.

Wenn es nichts zu essen gibt, kann man sich auch mit tausend Dollar kein Brot kaufen

Wer einmal erlebt hat, wie er sich mit tausend Dollar Bargeld kein Stück Brot kaufen kann, weil es einfach nichts zu essen gibt, wer einmal das fehlende Gewicht spürt, das Nichts in der Hand hält, das ein wenige Monate altes, verhungerndes Kind in Afrika ausmacht, bevor es in vollkommener Stille, ohne einen Schrei sein Leben aushaucht, der kann daran verzweifeln, der kann Zorn, Hass auf die ganze, satte Welt verspüren, oder er kann in tiefer Demut sein restliches Leben bestreiten.

Er bleibt sprachlos zurück, wenn er zu Hause hört, man habe doch schon so viel gespendet, so viel getan und man könne nicht die ganze Welt retten. Wenn eine Mutter, die sich bei 37 Grad sechs Stunden durch die sengende Hitze im Niger geschleppt hat, um einen Sack Mais, etwas Öl und Mehl zu ergattern, das von einer Hilfsorganisation ausgeteilt wird, wenn diese Frau, die ihre seit Tagen hungernden Kinder in der Hütte zurücklässt, dann vor dem Schranken steht, der heruntergelassen wird, weil es eben nichts mehr zu verteilen gibt, wenn dir diese Frau in die Augen sieht, soll ich ihr dann sagen, wir haben ja schon so viel gespendet, wir können nicht alle retten? Sie ist es, die sich zurückschleppt zu ihren Kindern, sich kaum auf den Beinen halten kann. Ihre Kinder werden sie von weitem kommen sehen, hoffen, sich auf etwas Essbares freuen. Mit jedem Schritt, den die Mutter näher kommt, werden sie sehen, dass sie nichts in Händen hält, nichts auf dem Kopf balanciert. Es ist diese Frau, die ihren Kindern dann nichts zu essen geben kann und diese Frau, die sich fragt, welches Kind als erstes sterben wird.
Es sind die Tränen dieser Frau, die mich sprachlos machen, wenn ich höre, wir haben doch hier schon so viel für „diese“ Menschen getan. Diese Menschen haben für mich einen Namen, ein Gesicht. Sie haben Tränen. Niemand hier kann sich vorstellen, was es heißt, seinen Kindern nichts zu essen geben zu können.

Wer kann sich das in Österreich, in Tirol schon vorstellen? Tagelang nichts zu essen zu haben, den Kindern nichts geben zu können. Den hungernden Kindern, dem eigenen Fleisch und Blut nichts geben zu können und dann täglich noch mit leeren Händen nach Hause zu kommen? Und dann soll ich der Mutter sagen, wir haben doch schon so viel gespendet und so viel geholfen?

Man sieht das rechte Auge in einem jungen Gesicht. Die Augen schauen nach oben, eine Träne rinnt über die Wange. Das Bild wirkt farblos.

Immer wieder treffe ich Menschen, die hören wollen, um zu verstehen.

Wer den Hunger, die Kälte, die Brutalität, den Tod erlebt und gesehen hat, dem Millionen täglich ausgeliefert sind, der kann nicht mehr über sein Leben jammern. Es ist aber dieses Jammern, das einen im Leben hier nach jeder Rückkehr empfängt.

Es klingt zynisch: aber ich habe selten ein Jammern, eine Unzufriedenheit mit dem Leben auf einer dieser Reisen erlebt, wie sie mir in einer regelmäßigen, unglaublichen Lautstärke hier zu Hause zu Ohren kommt. Wie oft habe ich mir gewünscht ich könnte die Menschen mit auf diese Reisen nehmen, ihnen zeigen, was es heißt, wirklich schlecht zu leben, ein wirklich schlimmes Leben führen zu müssen. Das ist nicht möglich. Vor allem interessiert es auch niemanden wirklich. 

Wie ist es denn wirklich? Keine Frage ist mir in den letzten Jahren so oft gestellt worden, wie die Frage, wie es denn wirklich ist, Krieg, Elend und Leiden mitzuerleben. Heute gebe ich selten eine Antwort. Denn die Antwort interessiert wenige. Wenige wollen wissen, wie es wirklich ist. Die meisten wollen ihr Bild bestätigt sehen, viele wollen auch in meinen Erzählungen die Sensationsgier befriedigt bekommen, die beim Anblick der schlimmsten Bilder in den Neuen Medien, die heute jedem und zu meinem Entsetzen auch jedem Kind offen stehen, offenbar noch immer nicht ruhig gestellt wurde. Ich habe aufgehört zu erzählen. Ich will keine Sensationsgier mehr befriedigen. Und doch treffe ich immer wieder Menschen, die hören wollen, um zu verstehen. Menschen, die eine Ahnung, einen Verdacht haben, dass ihr Leben hier vielleicht das größte Geschenk ist, das man bereits vor seiner Geburt vom wankelmütigen Schicksal erhalten hat, und dass man es nur schätzen müsste. Sie suchen, so wie ich als Kind, als mir mein Vater den Satz vorgab, der mein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt hat, nach Antworten. 

Drei reife Brombeeren hängen nebeneinander am Strauch.

Die große Kunst Dankbarkeit für unsere Selbstverständlichkeit entdecken

Wie mich die Reisen verändert haben? Was mich das Leben gelehrt hat? Es ist Dankbarkeit für mein Leben. Gutes Essen, Freunde, Glück empfinden zu können, die Dankbarkeit für eine schönen Ausblick, ein Glas Wein, ein schönes Gespräch, Zeit, die ich mit Menschen in Frieden verbringen darf. Gesundheit, die Wahrscheinlichkeit, morgen auch einen Tag in Sicherheit verbringen zu können, meine Kinder gesund, sicher, wohl genährt aufwachsen sehen zu können. Sie zu beobachten, wie sie sich entwickeln, lernen. Der Versuch, ihnen diese Demut für das Leben auf ihren Weg mitzugeben. Denn diese Dankbarkeit fühlen zu können ist eines der größten Geschenke, die einem das Leben machen kann. Es tröstet über viele Schatten und dunkle Stunden, die es auch in unserem Leben gibt. 

Mir fehlt die Angst, die Panik, die vielerorts beim Blick in die Zukunft um sich greift. Die Zeiten werden unruhiger werden, unsere Kinder werden in eine unsicherere Zeit geboren, wie wir sie kannten, aber ich bin davon überzeugt, dass wir als Menschen einen Weg finden können und werden. Und wir sind nicht alleine. Ich habe überall auf der Welt Menschen getroffen, die unsere Werte teilen. Oft aus anderen Kulturen, mit andere Sprachen, anderen Sitten, die uns oft auch unverständlich sind. Und ich habe gesehen, dass wir uns alle sehr ähnlich sind, man überall auf dieser Welt elementare Werte teilt, die uns alle ausmachen. Die Welt mag verrückt geworden sein, vielleicht auch viele Menschen. Es gibt viele Verwirrte, Geblendete, die Angst, Schrecken und Tod verbreiten, aber die Menschheit ist noch lange nicht verrückt. Das stimmt mich optimistisch. 

Ich bin heute dankbar für jeden Tag. Jeden Tag Glück und Zufriedenheit zu finden, ist eine große Kunst, vor allem in den kleinen, alltäglichen Dingen, die man nicht mehr schätzt. Ich habe gesehen, wie schnell man alles verlieren kann. Dem Kranken ist Gesundheit alles, der Gesunde schätzt sie viel zu selten. Wer in Sicherheit lebt, denkt nicht daran, wie wertvoll dieses Geschenk ist. Wer alles hat, und wir haben alles, kann darin täglich Zufriedenheit finden. Wir müssen es nur erkennen. Wir dürfen nicht vergessen, wie schnell sich alles ändern kann. Syrien war ein funktionierendes Land mit europäischen Lebensstandards, einem sehr guten Bildungssystem, medizinischer Versorgung auf sehr hohem Niveau. Was ist nach wenigen Jahren Krieg daraus geworden? Ich bin dankbar für das, was ich täglich habe. Es ist eine große Kunst, die Dankbarkeit für unsere Selbstverständlichkeit der Lebensführung zu entdecken, für das Leben, das wir führen dürfen. Dürfen, nicht müssen.

Unser Leben hier ist das größte Geschenk – erfreuen wir uns jeden Tag daran!

Unser Leben hier ist das größte Geschenk – erfreuen wir uns jeden Tag daran und vergessen wir nie die Menschen, die dieses Geschenk nicht bekommen haben. Sie brauchen unsere Hilfe. Das hat mich das Leben gelehrt. Und: Heute könnte ich meinem Vater eine Antwort geben. Ich weiß, was ein Stück Butter für ihn Wert gewesen sein dürfte.
 

Zum Wiederlesen

Wolfgang Böhmer hat diesen Beitrag für die Print-Ausgabe AUFLEBEN 2016/04 geschrieben. Zum Wiederlesen dürfen wir ihn auch AUFLEBEN.online veröffentlichen.

Wolfgang Böhmer
Wolfgang Böhmer

Wolfgang Böhmer ist seit mehr als 20 Jahren als Journalist für den Österreichischen Rundfunk tätig. Neben seiner Arbeit in Österreich berichtet er von den großen Kriegs-, Krisen- und Katastrophengebieten in aller Welt. Wolfgang Böhmer ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er lebt in Tirol.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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