
Das Zeitliche segnen
„Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, wenn ich auf mein Leben zurückschaue“, lässt mich Frau Anna in einem Gespräch wissen, das ich vier Tage vor ihrem Tod auf der Hospiz- und Palliativstation mit ihr geführt habe. Und mit einem Lächeln auf den Lippen fügt sie hinzu: „Ich freue mich auf meine neue Geburt und darauf, endgültig das Zeitliche, mein irdisches Leben und euch, die ihr noch eine Weile hierbleiben werdet, zu segnen.“ Diese Worte gehen mir nach. Auch deshalb, weil ich Frau Anna als so ruhig, so positiv, so gefestigt, so hingebend und so hinnehmend wahrgenommen habe. Doch: Welche Zeit gilt es zu segnen?
Die tickende Zeit
Für den Philosophen Peter Heintel ist das Charakteristikum unserer Zeit das hektische Ausgerichtet sein auf die Zukunft. Dadurch erscheint alles wertlos, was bereits existiert oder einmal gewesen ist. Immer kürzer ist die Lebensdauer dessen, was neu entsteht, immer schneller verliert das an Bedeutung, was wir hervorbringen. Die gnadenlos tickende Zeit hindert uns, gegenwärtig zu sein. Mit dieser Flüchtigkeit der Gedanken und Dinge geht eine dauernde Unruhe einher. Wir leben in einer Gesellschaft der Rufbereitschaft, deren Agent das Smartphone ist – mit eingebauter Pausenlosigkeit. Marianne Gonemeyer sieht in der zunehmenden Beschleunigung die Tendenz, Verschiedenheit einzuebnen und Gleichförmigkeit hervorzubringen. Mensch und Welt werden radikal versimpelt. Es wird auf Besonderheit verzichtet, da sich aus dem Besonderen und Einmaligen nun einmal kein Zeitgewinn herausholen lässt. Die reine Zweckmäßigkeit triumphiert und man kommt ohne Umschweife miteinander zur Sache. Der Zwang zur Beschleunigung ist in alle Poren gesellschaftlicher Existenz gedrungen und hat der Natur, der Gesellschaft und dem Individuum unauslöschliche Spuren eingegraben.

Der zu optimierende Mensch
Für die Schweizer Philosophin Dagmar Fenner ist die Selbstoptimierung der derzeit meistdiskutierte Trend in der Gesellschaft. Aus dem Druck, schöner, schlanker oder schlauer zu werden, sei bereits ein „gesellschaftliches Leitbild“ erwachsen, das unsere Lebenswelt immer stärker prägt. Selbstoptimierung ist dabei, zur alles durchdringenden Ideologie zu werden. Auch Praktiken, die dem Leistungsdruck eigentlich entgegenwirken sollten, sind selbst davon infiltriert: Wellness-Programme, Yoga- und Achtsamkeitskurse geraten heute oft zur Jagd nach der bestmöglichen Entspannung, der effizientesten Regeneration. Daher fordert Fenner die bewusste Etablierung von „optimierungsfreien Zonen“.
Reimer Gronemeyer sieht den heutigen Menschen als Macher durch und durch. Wenn das Leben die letzte Gelegenheit und der Tod das endgültige Ende ist, dann steigert sich die Verlustangst ins Unerträgliche. Zudem ist die Aufgabe der Selbsterschaffung und Selbstverbesserung, die sich das Individuum zur Pflicht macht, prinzipiell immer unvollendet. Für dieses Individuum kommt der Tod chronisch zu früh. Wenn der Tod nicht mehr aus der Hand Gottes kommt, dann, so Reimer Gronemeyer, ist er ein Verhängnis der Natur, ein Übel, ein Makel, der ihr anhaftet. Und so wird der Widerstand gegen den Tod darauf konzentriert, ihm so viel hiesiges Leben wie möglich abzuringen.
Auch Mephisto mahnt Faust zur Eile:
„Doch nur vor einem ist mir bang; / Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.“
Mephisto will Faust mit seichten Zerstreuungen betäuben, mit faden Vergnügungen trunken machen, ihn in turbulentes Treiben stürzen und mit wilden Ausschweifungen locken, um ihn desto sicherer leer ausgehen zu lassen. Mephistos Ziel ist es, Faust durch den lärmenden Tumult der Welt besinnungslos zu machen, in eine trügerische Zufriedenheit zu versetzen, anstatt den Dingen auf den Grund zu gehen.

Den Modus ändern
Dem Modus der Eile gilt es, die Besinnung entgegenzustellen. In der Besinnung geht es darum, zu den Sinnen zu kommen, den Weg zu erkennen und nach den fehlenden Be-„gründ“-ungen zu suchen. Uns ist vielfach der Grund im hastigen Voranschreiten verschwunden. Der Eilende richtet den Blick nie zurück. Hingegen provoziert ein Innehalten das Stehenbleiben, ebenso das Zurück-Schauen, das Er-Innern und das Nach-Denken. Im alten Griechenland gab es in der philosophischen Schule der Stoiker die Übung, das Leben von der eigenen Sterbestunde aus zu betrachten und dadurch zur Erkenntnis zu gelangen, „falsche“ Vorstellungen vom Leben von den klaren und „wahren“ zu unterscheiden (Heller/Schuchter). Bei schwierigen Entscheidungen den Blickwinkel vom Ende her einzunehmen, kann bereichernd und eine Quelle für Weisheit sein.
Dem Modus des Blicks auf sich selbst, auf die eigene Selbstoptimierung, gilt es den Blick hin zum Anderen entgegenzusetzen. Von der Gier nach Beachtung hin zum Geben von Zuwendung und zum Aufrichten. Wo immer krankem, geschwächtem und bedrohtem Leben aufgeholfen wird, da schimmert die Macht der Hoffnung durch. Es gibt Formen der Hinwendung zum anderen Menschen, die ihrem innersten Wesen nach zur Beschleunigung untauglich sind. Das Denken gehört dazu, das Empfinden, die Besinnung, die Betrachtung, die Befreundung, das Vertrauen, das Mitgefühl und auch die Trauer.
Den Modus zu ändern vom hastigen ausgerichtet sein auf Spaß hin zur lebenslangen Aufgabe der Entwicklung unserer Fähigkeit, Kreativität, Mitgefühl, Liebe und Freude zu empfinden. Aus dem guten Umgang mit dem eigenen Leiden kann die Fähigkeit erwachsen, sich selbst und andere gut leiden zu können.
Melanie Wolfers plädiert an unseren Mut, uns ins Leben hinein zu werfen und damit zu riskieren, uns blaue Flecken zu holen, uns emotional berührbar zu machen und die unabsehbaren Folgen der Hingabe zu riskieren. Es gilt die „Zentralverriegelung Angst“ dauerhaft zu deaktivieren, um tiefe Beziehungen zu leben und zu ermöglichen.
Melanie Wolfers plädiert an unseren Mut, uns ins Leben hinein zu werfen und damit zu riskieren, uns blaue Flecken zu holen, uns emotional berührbar zu machen und die unabsehbaren Folgen der Hingabe zu riskieren.
Eine genaue Betrachtung lohnt das Nachdenken über eine Abkehr vom Modus der Sicherheit, die es letztlich nicht gibt, hin zum Halt. Die eingangs zitierte Frau Anna hat mir die Augen für den feinen Unterschied zwischen Halt und Sicherheit vor Augen geführt. Sicherheit ist zum größten Bedürfnis (und Geschäft) unserer Zeit geworden, bleibt aber letztlich unerreichbar und eine Vertröstung. Halt dagegen ist tiefer und besitzt die Fähigkeit zu trösten. Frau Anna hat in mir den Eindruck einer Gehaltenen hinterlassen. Sie war gehalten als eine Glaubende und Hoffende, die daran zu glauben vermochte, dass es noch etwas Rettendes gibt, etwas, das über die jetzige Widrigkeit hinaus Bestand hat. Eine Hoffnung, die helfen kann, durch das Leid hindurch eine Sinnaussicht erfahrbar zu machen, sich nicht restlos durch das Leid bestimmen zu lassen.
Oder wie es der deutsche Medizinethiker Giovanni Maio ausdrückt: „Eine Hoffnung, nicht als die Leugnung der Möglichkeit des Vergeblichen, sondern als Glaube an die Bewältigbarkeit des Vergeblichen.“
Frau Anna hat mir auch vor Augen geführt, welche Kraft im Annehmen des Schicksals steckt. Im Annehmen dessen, was uns geschickt ist, liegt eine große Weisheit, die in unserer vom Machen dominierten Zeit erdrückt zu werden droht. Angesichts der vielen technischen und rechtlichen Möglichkeiten des Umgangs mit Leid, Sterben und Tod droht das Schicksal zur „Machsal“ (G. Maio) zu werden. In einer von Planung, Machbarkeit und Garantiedenken durchdrungenen Zeit tendieren wir dazu, lieber zu rechnen statt zu hoffen. Aus dieser kalkulatorischen Einstellung heraus lebt der Mensch im Modus der Erwartung und nicht mehr im Modus des Hoffens und des „Sich-anheim-fallen-lassens“.
Für Albert Schweitzer war das einzig Wichtige im Leben die Spuren, die wir hinterlassen, wenn wir gehen. Zu den Spuren, die Frau Anna in mir hinterlassen hat, zählt u. a. die schöne Umschreibung ihres Lebensendes, das sie mit dem Segnen und Segen-Sein verbindet. Auch Frau Anna hat ihr Leben offensichtlich unter diesen Segen gestellt und - angelehnt an eines ihrer Gebete - als die zwei wichtigsten Zeiten ihres Lebens „das Jetzt und die Stunde unseres Todes“ gesehen.
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