Grit:
In aktuellen Bildungsdebatten verdeutlicht sich vermehrt ein funktionales Menschenbild. Schule scheint sich immer mehr einem politisierten, funktionalen und ökonomischen System zu verschreiben, in dem Standardisierung, Leistungsorientierung und internationale Vergleichsarbeiten die Lehr-Lern-Prozesse diktieren. Hingegen liegt der Pädagogik aber ein humanistisches Menschenbild zugrunde. Dort ist der Mensch ein Wesen, das sich an Bildung orientiert, das Verantwortung für sich und andere übernimmt, das frei ist und die Freiheit hat, Entscheidungen zu treffen, und das vor allem auch bildsam ist und nach persönlicher Entfaltung strebt. Zum Menschsein gehören primär Kreativität, kritisches Denken, Neugier sowie Empathie für und Zusammenarbeit mit anderen. In der schulischen Bildung geht es im Grunde darum, mit jungen Menschen Strategien zu entwickeln und einzuüben, erwünschte von unerwünschten Konsequenzen ihrer Handlungen zu unterscheiden. Dafür stehen den Lernenden Informationen und Erkenntnisse ihres Bildungswegs zur Verfügung. Solange es richtige Antworten gibt, sind Entscheidungen eindeutig erwünscht oder unerwünscht, z. B. in geschlossenen Prüfungsformaten. Jedoch erkennt man einen gebildeten Menschen daran, dass er in offenen Fragen erwünschte von unerwünschten Konsequenzen unterscheiden kann. Dazu braucht es holistische Bildung, die auf humanistischen Werten aufbaut. Das Potenzial, solche Unterscheidungen zu treffen, das angelegt ist, wird in der Schule entfaltet.
In der Pädagogik ist der Mensch ein Wesen, das sich an Bildung orientiert, das Verantwortung für sich und andere übernimmt, das frei ist und die Freiheit hat, Entscheidungen zu treffen, und das vor allem auch bildsam ist und nach persönlicher Entfaltung strebt.
Andreas:
Wenn wir hier von „entfalten“ sprechen, wird dadurch aber ein funktionales, sogar funktional-mechanistisches Verständnis von Menschsein und Bildung deutlich. „Entfalten” hat etwas Geometrisches. Es suggeriert, dass vor dem Moment des Lernens etwas hineingelegt wurde, das kontrolliert und planbar entnommen werden kann. Da aber alles in Veränderung ist, sind Lernen und Entwicklung nicht Prozesse des Entfaltens, sondern eher Akte der kreativen Gestaltung. Potenziale wurden nicht eingeschaltet oder im Vorfeld grundgelegt. Vielmehr entstehen sie in jedem Moment neu. Sie sind noch nicht umgesetzte Möglichkeiten. Bei der Entscheidung, welchen Möglichkeiten, also Potenzialen, ich mich zuwende, ist es wesentlich zu unterscheiden, wie sich dies oder jenes auswirkt. Es gibt eben auch hier erwünschte und unerwünschte.
Grit:
Traditionell wird der Potenzialbegriff aber als Fähigkeit der Entfaltung verstanden. Er gleicht damit der Verwendung der Begriffe Begabung und Talent, als wäre ein grundsätzlicher Plan vorhanden, der realisiert werden und aus dem ein Mehr werden kann, wenn Menschen etwas erfahren, erleben, etwas lernen.
Andreas:
Ja, nur fokussiert dieser Zugang das individuelle Potenzial der Lernenden. Aber es hat auch jede Situation, jeder Kontext, den wir nicht vernachlässigen dürfen, seine Potenziale. Jeder Moment gestaltet sich anders und ermöglicht neue Unterscheidungen. Eine riesengroße Spielwiese an Möglichkeiten. Potenziale werden oft auf Talente und Begabungen reduziert. Sie sind aber noch nicht genutzte Ressourcen bzw. Gelegenheiten der einzelnen Momente, die uns im täglichen Schulbetrieb zur Verfügung stehen. Hingegen ist ein Talent die Fähigkeit, etwas in einem Gebiet zu können, für das andere Menschen mehr Übung benötigen. Der Potenzialbegriff geht weit über ein solches Verständnis hinaus und meint die Fülle an vorhandenen Handlungsmöglichkeiten, für die man sich entscheidet. Aber nur, weil die Handlungsmöglichkeiten unendlich sind, heißt das nicht, dass die Handlungen beliebig sind und alles möglich ist und wird. Hier sind dann die Unterscheidungen wesentlich, die getroffen werden.
Grit: Zumal es ja auch nicht so ist, dass immer alles machbar und alles planbar ist. Potenziale sind so dynamisch, dass Dinge immer anders kommen und Entscheidungen zu neuen Handlungsoptionen führen können. Bevor wir uns hinsichtlich des Potenzials für Handlungen entscheiden, unterscheiden wir zwischen den Optionen und antizipierten Konsequenzen. Und diese Unterscheidung als Voraussetzung für die Entscheidung ist dann wesentlich, weil sie den weiteren Weg anbahnt. Und damit ist Potenzial nicht beliebig.
Andreas: Potenzial ist kein deterministisches Konzept...
Potenziale werden oft auf Talente und Begabungen reduziert. Sie sind aber noch nicht genutzte Ressourcen bzw. Gelegenheiten der einzelnen Momente, die uns im täglichen Schulbetrieb zur Verfügung stehen.
Grit: Und es ist auch nicht so, dass diese Entscheidungen immer bewusst getroffen werden, sie entstehen eher im Handeln und unmittelbar in den Situationen. Punktuell sind sie nicht fassbar, aber die Auswirkungen der Unterscheidungen, die werden sichtbar.
Aber noch mal, und das ist wichtig: Was passiert mit Potenzial, wenn wir es ansprechen? Was ist das, dass da passiert, wenn es keine Entfaltung ist? Im allgemeinen Sprachgebrauch kann man Potenzial nicht nur entfalten, man kann es entdecken, entwickeln und fördern, aber auch vernichten, eindämmen und verhindern. Sprachlich müssen diese Vorgänge präziser gefasst werden.
Andreas: Potenzial wird in einer Wechselbeziehung der Akteur*innen besprochen und als neue Ressource bereitgestellt. Wenn wir von Unterricht, Lernen und Lernerfolg sprechen, wird oft noch von einem traditionellen Bild des Belehrens ausgegangen: Einerseits wird dabei unbewusst die Haltung vertreten, dass Lernende ohne die Lehrpersonen die entsprechenden Lerninhalte nicht (er)finden können. Andererseits kann das Gelernte nur durch die Lehrpersonen bewertet und beurteilt werden. Lernprozesse gemeinsam betrachten ist zeitgemäßer. Das gilt vorwiegend dann, wenn der Lehrperson bewusst ist, dass die Expertise über das Lernen, den Lernerfolg und die erbrachten Leistungen hauptsächlich durch die Lernenden selbst beschrieben werden können. Es gilt, Herangehensweisen zu wählen, mit denen diese Expertise besprechbar wird. Also von der Diagnose hin zum praktikablen Diskurs. Auch diese transpersonale Proflexion ist Teil der „gekonnten Beruflichkeit“.
Grit: Es geht also darum, dass Lernen, Lernprozesse und auch die Wertschätzung dessen, was gelernt wurde, in der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden besprochen wird. Proflexion unterscheidet sich von einer Reflexion und einer Ist-Standsanalyse. Bei der Reflexion wird geschaut, was bis jetzt passierte. Bei der Ist-Standsanalyse wird darauf geachtet, warum etwas so passierte und wie es jetzt gerade ist. In der Proflexion überlegt man, was in der Zukunft anders gewesen sein wird und an welchen Unterscheidungsmerkmalen man dieses andere konkret erkennt.
Es geht also darum, dass Lernen, Lernprozesse und auch die Wertschätzung dessen, was gelernt wurde, in der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden besprochen wird.
Andreas:
Es wird nicht nachgefragt, warum etwas so ist, wie es jetzt gerade ist, sondern, was künftig anders gewesen sein wird. An welchen konkreten Beobachtungen kann der zukünftige vom jetzigen Skalenwert unterschieden werden? Als Beispiel: Ich frage eine Lernende, wie zufrieden sie mit der Hausübung in Englisch ist, und sie wählt 7,3 von 10. Dann frage ich nicht, „Warum 7,3?”, sondern ich frage: „Wenn dein Wert für Zufriedenheit 8 wäre, wie wäre deine Hausübung dann anders?” Das, was zwischen dem Jetzt und dem Zukünftigen liegt, sind die bewusst erkennbaren und formulierten Ressourcen.
Grit:
Sie hat die Möglichkeit, darüber nachzudenken, welche Potenziale in der momentanen Hausübung noch gestaltbar werden können. Sie kann einschätzen, „Ich hätte drei Sätze mehr schreiben, für „interesting” ein Synonym suchen und nutzen, und mir das mit dem simple past noch mal genauer anschauen können.”
Andreas:
Genau darin liegt das Potenzial! Im Vergleich zu Skalen und Zahlen sind Farben als symbolische Repräsentationen für die Lernenden oft zugänglicher. Dabei bedeutet z. B. rot „das mache ich beim nächsten Mal ganz anders”, blau bedeutet „da geht schon ein bisschen was in die richtige Richtung”, gelb heißt „ich bin kurz vor meinem Zielbild” und grün „genau so habe ich mir das vorgestellt”. Lehrperson und Lernende besprachen die Farben kontinuierlich, denn sie galten auch hier nur als Orientierungspunkt für weitere Unterscheidungen. Potenzial wird in einer ständig vorhandenen Wechselbeziehung zwischen Lernenden und Lehrenden und in Bezug auf den jeweiligen Kontext der Situation, in der sie sich befinden, deutlich. Lernen braucht die Kultur der Interaktion und Kreativität, um mit den Potenzialen im Kontext Schule umzugehen.
Grit:
Und „gekonnte Beruflichkeit“ meint dann, sich auf eine gleichwertige Interaktion mit den Lernenden einzulassen, sich der Komplexität und Transpersonalität nicht nur von Lernen selbst, sondern auch von Leistungsbeurteilung, bewusst zu sein und dieses Bewusstsein für neue Handlungsmöglichkeiten zu nutzen: Als Lehrperson eben nicht mehr allein die erstellten Produkte der Lernenden zu korrigieren und mittels eines Rasters zu benoten, sondern Lernergebnisse in dem konkreten Kontext und Moment gemeinsam mit den Lernenden anzuschauen und sie zur Selbsteinschätzung einzuladen. Die Hattie-Studie zeigte ja, dass die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung und die Strategien zum kooperativen Lösen von Herausforderungen die größten Einflüsse auf den Bildungserfolg haben.
Andreas: Die Selbsteinschätzung der Lernenden ist eben ein wesentlicher Moment im Lernprozess, denn dort wählen sie den Wert auf der Skala oder die Farbe, um diese dann weiter zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung orientieren sie sich, und in der gemeinsamen Besprechung darüber findet Lernen statt. Es gibt individuelles Lernen, aber wirkliche Bedeutung gewinnt es, wenn es mit anderen geteilt wird, wenn mit anderen darüber gesprochen wird, es anderen gezeigt werden kann, wenn innere Wertschätzung einem selbst gegenüber von außen Resonanz findet.
Grit: Um diesem sehr dynamischen Prozess des kontinuierlichen Entstehens von neuen Möglichkeiten, des kontinuierlichen Besprechens von Lernen und Lernerfolg gerecht zu werden, brauchen wir eine andere Sprache. Das Konzept von Potenzial, das hier deutlich wird, lässt auch oft genutzte Begriffe wie Leistungsfeststellung fragwürdig erscheinen. Wir denken „Potenziale ansprechen” anders.
Zum Einen in Bezug darauf, wie man das Thema an sich anspricht, also welche Sprache man nutzt, um über Potenziale und das, was sie (aus)machen, zu kommunizieren.
Zum Anderen bezieht sich „Potenziale ansprechen” darauf, wie man in Lehr-Lern-Situationen agiert, um die Potenziale von Lernenden anzusprechen, sie anfragt und anregt, aber ihnen auch die Freiheit lässt, sich selbst bilden zu wollen.
Zum Dritten bezieht sich „Potenziale ansprechen” auf die transpersonale Interaktion zwischen den Lernenden und Lehrenden, die gemeinsam und proflexiv besprechen, welche weiteren Schritte im Lernen gegangen werden können, um Unterscheidungen zwischen jetzt und einer zukünftigen Situation erkennen zu können.
Die Selbsteinschätzung der Lernenden ist eben ein wesentlicher Moment im Lernprozess.
Statt einer Zusammenfassung
- Wir können Potenzial nicht enfalten, sondern uns proflexiv an Potenzialen orientieren und nächste Gelingesräume ansprechen.
- Gekonnte Beruflichkeit bedeutet, sich auf den humanistischen Bildungsauftrag zu besinnen und Lernende nicht auf Produkte der Institution Schule zu reduzieren.
- Um Lernen und Potenziale erfahrbar zu machen, braucht es Resonanzräume, in denen Unterscheidungen ermöglicht werden.
- Die Lernleistung der Lernenden wir in ihrer Selbsteinschätzung deutlich, die mit einer Lehrperson transpersonal und proflexiv besprochen wird.
- Im Sinne eines humanistischen Bildungsverständnisses sehen wir gerade im Ansprechen von Potenzialen durch das Treffen von Unterscheidungen ein wesentliches Element von Deweys Bildung als "the art of giving shapte to human powers" (My Educational Creed, 1897, 18).
Wenden Sie sich gern an grit.alter@ph-tirol.at.ac und andreas.wurzrainer@ph-tirol.ac.at, um mit uns ins Gespräch zu kommen.
Kommentare
Sei der erste, der diesen Artikel kommentiert.
Kommentar schreiben
Bitte logge dich ein, um einen Kommentar zu schreiben.