Liederwerb in der Volksschule

Musik und Bewegung sind für die gesamte Entwicklung von Kindern unverzichtbar. Deshalb sollte Singen im Schulalltag eine zentrale Rolle spielen. Singen fördert nicht nur die stimmliche Ausdrucksfähigkeit, sondern auch das Lernen. Elisabeth Nagiller-Rendl beschreibt, wie das gemeinsame Singen leicht gelingt und warum es so wichtig ist. Singen versetzt in den sogenannten Alphazustand, indem das Gehirn klar arbeitet und der Geist frei ist. In diesem Bewusstseinszustand fällt das Lernen leichter und ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. 

Die Kreuzpolka

Ein Beispiel aus der Praxis zum Umgang mit alpenländischen Volksliedern

Im Fach Musikerziehung spielt gerade im Primarbereich das „SINGEN“ eine zentrale Rolle. Die Singstimme ist ohne Vorkenntnisse einsetzbar. Die Kinder besitzen in den allermeisten Fällen bereits aus den elementarpädagogischen Einrichtungen sowie aus dem Elternhaus Vorerfahrungen im Singen. Sowohl Quantität als auch Qualität zeigen sich dabei aber häufig in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Die folgenden Ausführungen sollen anhand eines praktischen Beispiels mit vorgelagerten kurzen theoretischen Ausführungen eine Möglichkeit des kreativen Umgangs mit Liedgut aufzeigen.

 

Rahmenbedingungen für die Vermittlung des Liedgutes in der Primarstufe:

Die*Der Volksschulpädagoge*in hat u.a. die Aufgabe die Kinder mit einem breiten Spektrum von unterschiedlichsten Stilrichtungen von Liedern vertraut zu machen. Mehrere wissenschaftliche Studien konnten belegen, dass die Offenohrigkeit für Lieder im Alter von ca. acht Jahren abnimmt. Das heißt, die Schüler*innen stehen neuem Liedgut bereits im frühen Alter relativ kritisch gegenüber. So stellten Gembris und Schellberg in ihrer Untersuchung fest, dass die Offenohrigkeit bei den jüngeren Kindern (bis zum zweiten Grundschuljahr) größer ist als bei den Älteren (vgl. Auhagen et al., 2007, S. 71). Aufgrund dieser Erkenntnisse kann man vor allem in der 1. und 2. Schulstufe die Offenohrigkeit der Kinder dafür nutzen, das im späteren Alter oft abgelehnte alpenländische Liedgut zu pflegen. Dadurch leistet der Musikunterricht nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur musikalischen Erziehung, sondern kann auch die regionale Identität der Kinder fördern. Um die Schüler*innen für Volksmusik zu begeistern eignet sich besonders die Einstudierung eines Liedes in Verbindung mit Tanz und Bewegung. Der natürliche Bewegungsdrang der Kinder kommt beim Erlernen eines Liedes der Lehrkraft zugute.

Namhafte Musikpädagogen wie Kern und Chilla betonen die bedeutende Wirkung zwischen Bewegung und Musik wie folgt:

Musik und Bewegung sind für die gesamte Entwicklung der Kinder unverzichtbar: Freude an Aktivität, körperliche Aufmerksamkeit, Notwenigkeit zur Konzentration, Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, Schulung rhythmischer Fähigkeiten und soziale Kompetenzen werden (…) gefördert. (Kern, 2012, S. 4).

Und weiter:

Kinder nehmen durch Bewegung wahr. Sie bewegen sich gerne und häufig spontan – manchmal auch unbewusst. Sie brauchen Bewegung als Mittel des Gefühlsausdrucks und der Konfliktverarbeitung. Ihre Emotionen, ihr Trotz oder auch ihre Wut können so abreagiert werden. Beim Singen vertieft Bewegung das Musikerleben. Wenn sich Kinder konzentrieren sollen, müssen sie sich auch bewegen dürfen. Bewegung sorgt für Entspannung und ist ein Antistressmittel. Bieten Sie in jede Altersstufe Möglichkeiten zur Bewegung während der Probe. (Chilla, 2009, S. 67).

 

Darüber hinaus werden die vielen notwendigen Wiederholungen einer Liedmelodie bzw. eines Liedtextes mit Bewegung spielerisch trainiert und nicht als langweilig empfunden.

Nachstehend ein praktisches Beispiel für eine kindgerechte Einstudierung der Kreuzpolka für die Praxis.

 

Gestaltung einer Unterrichtsstunde:

Im Rahmen des Stundeneinstiegs erfolgt zunächst die Aktivierung des Körpers mit nachfolgenden Atemübungen als Vorbereitung zum konkreten Liederwerb.

 

Aktivierung des Körpers

  • Dehnen: auf Zehenspitzen stellen, die Arme nach oben strecken und dabei gähnen
  • Schultern kreisen (nach vorne und hinten)
  • Auf der Stelle gehen, laufen, hüpfen
  • Körper abklopfen: Wir klopfen und schütteln ihn ab (Arme, Beine, Brustkorb, Bauch)
  • Aufrechte Haltung annehmen: Federpennal auf den Kopf legen und durch den Raum schreiten wie ein König oder eine Königin

 

Begründung für die Intervention:

„Der Körper eines Kindes ist sein Instrument. So wie jeder Instrumentalist sein Instrument pflegt, muss auch der Sänger durch eine gute Haltung die Voraussetzung zum Singen schaffen. Überspannungen blockieren nicht nur die Durchblutung, sondern – aufgrund der Zusammenarbeit der Muskeln – auch das gute Funktionieren des Stimmapparates und somit die Qualität des Gesangs. […] Für eine gute, dem Singen förderliche Körperhaltung ist das Zusammenspiel von Wirbelsäule und Muskulatur nötig; diese müssen sich in einer ausgeglichenen Balance zwischen Anspannung und Entspannung befinden.“ (Chilla, 2009, S. 147).

„Die Haltung bei Kindern bedarf ständiger Aufmerksamkeit und Korrektur. […] So werden wir immer wieder zur elastisch-aufrechten Haltung mit geweitetem Brustkorb und lockeren Schultern anhalten müssen.“ (Mohr, 2013, S. 60)

 

Atemübungen:

Achtung auf geräuschlose Ein- und Ausatmung (Bauch geht dabei nach außen und innen).

  • Auf sssss ausatmen und beim Einatmen ein Nasenloch zuhalten und Luft einströmen lassen (eine Hand auf den Bauch legen, um die Bewegung des Bauches zu kontrollieren)
  • Zug nachahmen: tsch, f, s, tsch, f, s…. (Zwerchfellaktivierung)
  • Brustkorb weiten: Arme nach vorne strecken, dabei auf ffff ausatmen, Arme zur Seite bewegen und durch die Nase einatmen, Arme fallen lassen und ausatmen (auf die aufrechte Haltung achten!)
  • einige imaginäre Federn vom Arm wegblasen

Begründung:

„Fast alle Kinder ab etwa 3 Jahren haben die Fähigkeit verlernt, mit dem Zwerchfell zu atmen. Bei den meisten wird sogar deutlich Hochatmung mit extremen Schulterbewegungen vorherrschen.“ (Mohr, 2004, S. 13)

 

Anschließend werden die Kinder für eine gute Artikulation vorbereitet:

  •     Staunen (Unterkiefer hängt dabei locker nach unten)

Begründung: „Der Mund. Er wird weich geöffnet. Die Meinung, dass das Aufreißen des Mundes eine deutliche Aussprache gewährleistet, ist falsch. Dieses Aufreißen hat sogar nach innen hin eine Abschnürung des Halses zur Folge. Wenn der Tonstrom ungehindert durch den Nasen- und Rachenraum strömt, sollte die gesamte Gesichtsmuskulatur entspannt sein. Nicht nur die Stirn- und Wangenmuskeln sind natürlich unverkrampft, sondern auch die Mundpartie bleibt locker und unverzerrt. Kein schiefer Mund ist zu sehen“ (Heinzmann, 2001, S. 15). Es folgt ein konkreter Einsingteil mit dem Ziel, die Stimme für das nachfolgende Singen zu erwärmen.

Einsingen

  •     Summen auf mmm von Quinte nach unten (Vorstellung – heiße Kartoffel im Mund
        (c`` nach f`) – Achtung auf locker geschlossene Lippen und offenen Mundraum
  •     Vokalausgleichsübungen
  •     wu, a e i o u, auf einen Ton – (zu achten ist auf eine Verschmelzung der Vokale)
  •     mi, mo, mi, mo…; ni, na, ni, na,…; su a su a…; stufenweiser Auf- und Abstieg bis zur Quinte
  •     ma, ma, ma (bis zur Quinte – Unterkiefer locker!)
  •     Übungen mit Konsonanten:
  •     ti pe ta pe, ti pe ta pe (bis zur Quinte und wieder hinunter)
  •     ti di di (auf einer Triole bis zur Quinte und wieder hinunter)
  •     Staccato-Übungen:
  •     ho ho ho ho ho (Dreiklang), ebenso auf hi, ha, hu….

Begründung:

„Für eine deutliche Aussprache sind die Konsonanten zuständig. Die Vokale sind Träger des Klangs. Die Konsonanten ,behindernʻ den Klangfluss der Vokale, müssen aber für die Textverständlichkeit trainiert werden“ (Chilla, 2009, S. 166).

 

Den Hauptteil der Unterrichtsstunde bildet die Erarbeitung des Liedes „Kreuzpolka“.

Die Lehrperson singt die erste Strophe vor, darauf folgt eine kurze Besprechung des Textes. Die nachfolgend kursiv geschriebenen Textpassagen stellen die Anweisungen der Lehrperson dar.

L: „Worum geht es in diesem Lied?“

 

Liederarbeitung

Zunächst wird der Text in Teilen erarbeitet:
Änderung der Organisationsform mit Einführung einer Choreographie
Paarweise Aufstellung der Kinder in zwei Reihen einander gegenüber

L: „Sich den Text und die Melodie zu merken, ist sehr schwer – wenn wir dazu eine Bewegung machen, dann geht es viel leichter!“

Lehrperson spricht vier Takte vor (Hände sind dabei in die Hüfte gestützt) und führt folgende Bewegung aus:

  • Takt 1 bis 2 zwei Ausfallschritte nach rechts,
  • Takt 3 bis 4 zwei Ausfallschritte nach links,

L: „Das können wir doch auch singen – haben wir das heute nicht schon einmal gehört?“
Lehrperson singt die ersten vier Takte des Liedes vor; diese vier Takte werden mehrmals wiederholt (Call & Response);

Dabei muss darauf geachtet werden, dass die Kinder im Metrum bleiben, dieselbe Vorgangsweise wird bei allen übrigen Takten durchgeführt.

 

Weiterführung der Bewegungsform:

  • Takt 4 bis 8 die Hände in die Hüfte gestützt, zwei ganze Drehungen ausführen,
  • Takt 9 bis 12 mit beiden Händen auf die Oberschenkel patschen und einklatschen mit dem Partner (jeweils abwechselnd viermal)
  • Takt 12 bis 14 Drehung
  • Takt 15 und 16 auf der Stelle viermal klatschen, dreimal stampfen;

Ist das Lied in den Abschnitten mit der Bewegung erarbeitet, wird es durch mehrmalige Wiederholung vertieft.

Kinder erlernen ein Lied mit der Call & Response-Methode besonders gut. Dabei muss darauf geachtet werden, dass nur kurze Melodiephrasen vorgesungen werden. Zusätzliche Bewegungsabläufe erlauben viele Wiederholungen, ohne dass Langeweile auftritt oder die Konzentration sich erschöpft (vgl. Reuther, 2015, S. 132f.).

Zwei Mädchen tänzeln auf einem Waldweg
Bewegung sorgt für Entspannung.

Literatur

Auhagen, W., Bullerjahn, C. & Höge, H. (Hrsg.). (2007). Musikpsychologie – Musikalische Sozialisation im Kindes- und Jugendalter. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie. Hogrefe Verlag GmbH & Co.KG.

Chilla, K. (2009). Handbuch der Kinderchorleitung. Ein praktischer Ratgeber. Mainz: Schott Musik International.

Heizmann, K. (2001). So spreche ich richtig aus. Eine Hilfe für Redner, Chorleiter und Sänger. Mainz: Schott Musik International.

Kern, W. (2012). Action Songs. 111 Bewegungslieder für coole Kids. Helbling.

Liederheft des Tiroler Volksmusikvereins. (o. J.). Singen is inser Freid. 20 alpenländische Lieder für Kinder. (o. O.).

Mohr, A. (2004). Praxis Kinderstimmbildung. 123 Lieder und Kanons mit praktischen Hinweisen für die Chorprobe. Mainz: Schott.

Mohr, A. (2013). Handbuch der Kinderstimmbildung. Mainz: Schott Music GmbH & Co. KG.

Reuther, I. (2015). JEKISS. Jedem Kind seine Stimme. 3. Auflage. Kasse

4 Kinder Kinder halten ein Notenblatt in der Hand und singen gemeinsam
Der Körper eines Kindes ist sein Instrument, und muss wie jedes Instrument gepflegt werden.
Elisabeth Nagiller-Rendl
Elisabeth Nagiller-Rendl MEd

Elisabeth Nagiller-Rendl ist Fachgruppenleiterin für Gesang in der Musikschule der Stadt Innsbruck.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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