Vorwort
„Gute Typographie ist so, wie ein idealer Diener gewesen sein mag: da und doch nicht bemerkbar; unauffällig, aber eine Voraussetzung des Wohlbefindens, lautlos, geschmeidig (…)“, Jan Tschichold.
Deshalb ist es auch die Aufgabe von uns Lehrenden, die Physiologie der Lernenden optimal zu bedienen. Wir müssen die semantische Typografie im Griff haben, damit wir unsere Zielgruppen erreichen können. Umso geringer die Lesemotivation ist, umso mehr müssen wir uns um die Gestaltung der Inhalte bemühen. Je eingängiger und attraktiver ein Text gestaltet ist, desto höher ist die Chance, dass er gelesen, zu Ende gelesen und verstanden wird.
Um dies zu erreichen, helfen uns visuelle Gestaltungsregeln, die uns eine Anleitung geben, wie Lern- und Lehrmaterialien aufbereitet werden sollen, um Lesende zum Lesen zu motivieren und Lernende den maximalen Erfolg zu verschaffen.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf analoge Druckwerke und nicht auf digitale Anwendungen, wie z. B. Responsive Websites oder eBooks.
„Typografie ist nichts anderes als die Kunst, jeweils herauszufinden, was das Auge mag, und die Informationen so schmackhaft anzubieten, dass es ihnen nicht widerstehen kann.“
Otl Aicher
1. Über das Lesen
Um zu verstehen, warum Wissensvermittlung über gut gestaltetes typografisches Design besser funktioniert als über schlecht gestaltete Unterlagen, werfen wir einen Blick in Richtung Lesen und stellen uns die Frage, wie wir eigentlich lesen?
Lesen ist eine Fähigkeit, die wir erst lernen müssen.
Unser Gehirn und unsere Sinne sind nicht von Geburt an darauf vorbereitet, Texte linear, Zeile für Zeile, zu erfassen. Vielmehr ist unser Sehsinn darauf ausgerichtet, zu schauen und zu erforschen. Unsere Augen tasten die Umgebung möglichst flächendeckend ab und sind ständig bereit, auf Reize und Veränderungen zu reagieren. Diese Art von (Herum-)Schauen ist die einzige Art der Bewegung, die sich unsere Augen in Millionenjahren der Evolution angeeignet haben (Tiefenthaler, 2009, S. 23).
Schauen ≠ lesen
Schauen funktioniert anders als lesen und lesen ist eine kulturelle Tätigkeit, die hart erlernt werden muss. Lesen ist eine unnatürliche Bewegungsart für unsere Augen“, Martin Tiefenthaler (Österreichischer Grafikdesigner und Typograf)
Was passiert nun, wenn wir vom bloßen „Herumschauen“ in ein lineares Lesen wechseln müssen?
Die ersten systematischen Beobachtungen der Augenbewegungen beim Lesen wurden bereits 1878 von dem französischen Augenarzt Émile Javal durchgeführt.
Javals Untersuchungen zeigten, dass die Augen während des Lesens nicht kontinuierlich die Zeilen entlang gleiten, sondern eine Reihe von Vorwärtssprüngen, sogenannte Sakkaden, durchführen, die mit kurzen Stopps (Fixationen) vermischt werden.
Abgesehen von Leseanfänger*innen, ist Lesen kein kontinuierliches „Auflesen“ von einem Buchstaben nach dem anderen, vielmehr wird der Blick schrittweise über eine gewisse Buchstabenanzahl hinweg vorwärts bewegt, um an „Landeplätzen“, den Fixationen, wieder eine kurze Zeit zu verharren.
Eine Fixation dauert ungefähr 200 bis 250 Millisekunden. Eine Sakkade hingegen nur 20 Millisekunden. Sakkaden sind im Vergleich zu den Fixationen also ein relativ kurzer visueller Prozess beim Lesen; hier findet auch keine Informationsaufnahme statt. Diese passiert während der Fixationen (Filek, 2013, S. 22).
Wie viele Sprünge wir machen und wie lange wir verharren, ist abhängig von der Schwierigkeit des Textes und der Erfahrung der Lesenden.
Geübte Leser*innen können mehr Zeichen aufnehmen, fixieren kurz und vollführen große Sprünge mit den Augen. So können gut 300 Wörter pro Minute verarbeitet werden-
Bei schwierigen Texten, unbekannten Wörtern, Unkonzentriertheit, aber auch bei schlecht gestalteten Texten kommt es beim Lesen zu einem Mehraufwand. Die Lesenden müssen mit kürzeren Rücksprüngen noch einmal nachlesen, da sie etwas nicht richtig verstanden haben.
Hier spricht man dann von sogenannten Regressionen, die ca. 5–15 % aller Augenbewegungen ausmachen (Unger, 2009, S. 64f.).
Diese Regressionen werden zwar nicht bewusst als solche wahrgenommen, kosten aber merklich Zeit und erfordern vermehrten Muskeleinsatz in den Augen. Sollten sie mehr als 10 % der Lesezeit ausmachen, wird das Ausmaß an tolerierbaren Störungen überschritten und es kommt zu Ermüdungserscheinungen oder Konzentrationsproblemen. Daraus kann resultieren, dass der Text nicht mehr gut verstanden wird (Tiefenthaler in Borinski, Gorbach, 2019, S. 28).
Sollen Lesende und Lernende einen Text nicht nur zu lesen beginnen, sondern ihn auch und vor allem zu Ende lesen, müssen Bedingungen geschaffen werden, die die Anforderungen an die Augen optimal bedienen und Hindernisse oder Stolpersteine vermeiden.
Das folgende Experiment von Hyunjin Song und Norbert Schwarz (University of Michigan, 2008) verdeutlicht die Bedeutung, die allein die Wahl einer passenden Schrift auf den Inhalt haben kann.
“If it’s hard to read, it’s hard to do”
Song und Schwarz ließen zwei Versuchsgruppen ein und denselben Text in unterschiedlichen Schriftarten lesen. Inhaltlich ging es bei dem Experiment um die Aufforderung, sich an einer Aufgabe zu beteiligen. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass Menschen eher bereit sind, sich einer Aufgabe zu stellen, wenn diese nicht zu viel Aufwand erfordert. Interessant ist jedoch die Art und Weise, wie festgestellt wurde, ob eine Aufgabe als einfach beurteilt wird und wie die Zielgruppen motiviert werden können, diese zu erledigen.
Die Forscher versuchten eine Gruppe von College-Studierende zu motivieren, regelmäßig Sport zu betreiben und boten ihnen Anleitungen zur Umsetzung eines Trainingsprogramms an. Die Hälfte der Studierenden erhielt die Anweisungen in der leicht lesbaren Standardschrift Arial. Die Übrigen in der schwerer lesbaren Schriftart Brush (einer Schriftart, die wie mit einem Pinsel geschrieben aussieht). Die Studierenden sollten daraufhin einschätzen, wie lange die Übungen dauern und ob sie sie zu einem Teil ihrer täglichen Routine machen würden. Im zweiten Experiment erhielten die Gruppen ein Rezept zur Zubereitung von Sushi. Wie zuvor erhielt die Hälfte der Gruppe ein leicht lesbares Rezept, während die Restlichen das Rezept in einer schwerer lesbaren Schrift erhielten. Im Anschluss wurden alle Teilnehmenden gefragt, wie schwierig es ihrer Meinung nach sein würde, das Sushi zuzubereiten.
Die Ergebnisse waren faszinierend. Die Studierenden, die die Übungsanleitungen in der leicht lesbaren Schriftart Arial erhielten, glaubten, dass das Trainingsprogramm weniger Zeit in Anspruch nehmen würde und sich leichter durchführen ließe, als die Gruppe, die die Anweisungen in der schwer lesbaren Schriftart erhielt. Noch wichtiger war, dass die Gruppen eher bereit waren, diese Übungen zu einem Teil ihrer täglichen Routine zu machen, wenn die Anweisungen in einer leicht lesbaren Schriftart verfasst waren. Die Ergebnisse des zweiten Experiments waren ähnlich. Auch hier waren die Studierenden, die das Rezept in der leichter lesbaren Schrift gelesen hatten, der Ansicht, dass die Zubereitung weniger Zeit in Anspruch nehmen würde und nicht viel kulinarisches Geschick brauche.
Die Ergebnisse zeigen, dass die einfache Lesbarkeit eines Textes mit der Umsetzung der darin enthaltenen Anweisungen gleichgesetzt wird.
Mit anderen Worten, wenn die Anweisungen schwer lesbar sind, wird auch die Aufgabe als schwierig und langwierig beurteilt, sodass sie nicht einmal in Angriff genommen wird.
(Hyunjin Song, Norbert Schwarz)
Das Experiment der zwei Forscher verdeutlicht, welche ungeahnte und direkte Wirkung allein die Schriftwahl auf den Inhalt hat. Viele weitere Einflüsse, wie u. a. fehlende Lesemotivation, geringes Interesse, Ablenkung, schlechte Leseerfahrung, aber auch schlechtes Licht oder auch die Verschlechterung der Sehschärfe, beeinflussen unsere Fähigkeiten, aus Buchstaben, Wörtern und Sätzen Inhalte und Informationen aufzunehmen.
Sich mit der Gestaltung von Texten zu befassen, bedeutet also, sich mit einer Vielzahl von Faktoren zu beschäftigen.
Mehrteiliger Beitrag
- Teil 2: Aufgaben von Gestalter*innen
- Teil 3: Schriften
- Teil 4: Zeilenabstände
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