Entwicklung als vorgegebener Pfad
Vor drei Monaten hatte ich das jährliche Entwicklungsgespräch für meinen 5-jährigen Sohn mit der Pädagogin im Kindergarten. Sie hat mir die sogenannte „Entwicklungsschnecke“ für ihn gezeigt. Dort finden sich 169 Fähigkeiten und Fertigkeiten (oder nannte sie es Kompetenzen?), die er potenziell beherrschen sollte. Was er schon kann, ist angemalt, der Rest bleibt weiß. Da er noch nicht 6 ist, muss er noch nicht alles können. Das ist beruhigend.
Trotzdem fiel mein Blick sehr schnell auf jenen Bereich, der noch ziemlich unberührt war: die Bewegung. Ich dachte bei mir: „Komisch, er springt doch den ganzen Tag herum. Er schießt mit Pfeil und Bogen, er klettert auf Bäume. Vielleicht macht er das nicht mit der richtigen Technik?“ Die Pädagogin klärte mich auf: Es geht auch um die Feinmotorik, nicht nur die Grobmotorik. Grobmotorisch sei er wirklich gut, feinmotorische Angebote hingegen interessieren ihn im Moment gar nicht – deshalb die vielen weißen Flächen. Das heiße aber noch nichts: Er könne sich im letzten Kindergartenjahr mit der entsprechenden Förderung und reizvollen Angeboten in Sachen Feinmotorik noch sehr gut entwickeln. Wenn das passiert – wenn also hoffentlich die gesamte „Entwicklungsschnecke“ mit ihren 169 Fähigkeiten für das Alter von 3 bis 6 Jahren flächendeckend ausgemalt ist – hat mein Sohn dann sein Potenzial im Kindergarten entfaltet?
Erkunden von Möglichkeitsräumen
Ich denke, die Antwort darauf lautet: „Das kann man so nicht wissen.“ Denn sein Potenzial zu entwickeln, heißt nicht, alles gleich gut zu können. Das Wort Potenzial deutet vielmehr darauf hin, dass es sich um einen individuellen, ganz spezifischen und oft noch in der Zukunft liegenden Möglichkeitsraum handelt, den es zu entdecken gilt. Wenn die Tür zu diesem Raum aufgeht, welches Denken, Erleben und Handeln wird dann möglich? Dabei sehe ich nicht nur die einzelne Person, die ihre Talente leben und erleben kann, sondern auch die Mitmenschen, die sich an den Fähigkeiten und Fertigkeiten anderer erfreuen dürfen. Und diese Potenziale sind oft, gerade weil sie besondere individuelle Talente betreffen, einseitig, unausgewogen, überdurchschnittlich in einer Hinsicht und unterdurchschnittlich in anderer.
Das eigene Potenzial zu entwickeln heißt nicht, alles gleich gut können.
Ich erinnere mich an dieser Stelle an meine Nichte, die ein ausgesprochen sozial kompetentes Kind ist. Sie kann mit einer Sanftmut und Leichtigkeit aufkeimenden Streit zwischen Kindern in Luft auflösen. Sie spielt im i-Kindergarten stundenlang mit Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Sie liebt Menschen und jede soziale Interaktion. Ihr Traumberuf ist Kinderkrankenpflegerin oder Behindertenbetreuerin. Doch innerhalb der Familie, wenn es darum geht, in Alltagssituation zu entscheiden, ob man zum Beispiel auf den einen oder anderen Spielplatz geht, flippt sie regelmäßig aus. Wegen scheinbar nichts. Dann wird sie aggressiv, ist absolut unzugänglich und wie in einem „Tunnel“.
Was hat diese Geschichte mit der Entfaltung von Potenzialen zu tun? Ich glaube, ganz viel. Sie zeigt, dass das Entfalten von Potenzialen nicht nur einseitig Positives und Kreatives umfasst. Es kann auch destruktive Seiten haben. Ich stelle mir das so vor, dass sich der einzelne Mensch, um irgendwohin zu gelangen, auch manchmal von etwas oder von jemandem abstoßen muss, sich wegdrücken und Widerstand aufbauen, um Energie zu gewinnen für das Erkunden von neuen Möglichkeitsräumen.
Nicht mit Leistung verwechseln
Individuelle Potenziale haben nicht zwingend mit Leistung zu tun. Wir verstehen das in unserer Gesellschaft zwar oft so: Wir sprechen zum Beispiel vom „Potenzial nach oben“ und meinen, da kann jemand noch mehr Output liefern. Oder wir sagen zu einem Jugendlichen: „Du schöpfst dein Potenzial nicht aus“, und meinen eigentlich, du interessierst dich für meinen Geschmack zu wenig für die Schule.
Mein persönliches Potenzial zu entfalten hat ganz oft damit zu tun, viel Energie in etwas hineinzustecken, was mir unglaublichen Spaß macht, mir Genugtuung verschafft oder mich mit Zufriedenheit und Freude erfüllt. So gesehen kann eine hohe Leistung auf der Basis von häufigem Training eine Folge von der Entfaltung me ines Potenzials sein. Die Leistung an sich ist aber nicht der alleinige Zweck der Übung.
Mein persönliches Potenzial zu entfalten hat ganz oft damit zu tun, viel Energie in etwas hineinzustecken, was mir unglaublichen Spaß macht, mir Genugtuung verschafft oder mich mit Zufriedenheit und Freude erfüllt.
Das Erkunden von Möglichkeitsräumen beinhaltet immer auch etwas Neues und Unvorhergesehenes. Wie bei der Schaffung von Kunst oder beim Klettern auf einen Baum weiß man vorher noch nicht, wie das Ziel aussehen wird, bevor man nicht seine Ressourcen voll und ganz ausgeschöpft hat. Das Ausschöpfen des Potenzials ist also nicht das Erbringen einer standardisierten Leistung, sondern das Definieren einer neuen, noch unbekannten Kombination aus Quantität und Qualität.
Gleichnis von den Talenten
Wenn ich weiter über das Ausschöpfen von Potenzialen nachdenke, so kommt mir der Gedanke, dass ein Leben vielleicht erst dann glücklich und erfüllt sein kann, wenn jede und jeder ihre*seine Potenziale ausreichend gut entfalten konnte. Im Evangelium heißt es, jede Person soll ihre Talente nutzen und fruchtbar machen, egal wie viele Talente sie zu Anfang erhalten hat. Ich habe dieses Gleichnis immer so verstanden, dass wir uns beteiligen sollen in der Gesellschaft, teilnehmen am Kreislauf des Lebens… jede und jeder nach seinen Fähig- und Fertigkeiten. Und hier wiederhole ich mich: Dies soll nicht nur zum eigenen Nutzen und Wohlbefinden geschehen, sondern auch zum Wohle unseres sozialen wie natürlichen Umfeldes. Ich möchte hier die persönliche Entfaltung, die dem Individuum guttut, bewusst in den Rahmen des Kollektiven stellen. Die Gemeinschaft trägt einerseits Verantwortung dafür, den notwendigen Raum für Individuen zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Potenziale leben können. Dies ist in autoritären Systemen in der Vergangenheit wenig passiert. Andererseits sind Individuen aufgefordert, ihre besonderen Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft einzubringen. Dies passiert im Moment in unseren individualistischen Systemen zu wenig. Jede und jeder bleibt und schaut zu sehr auf sich.
Bildungssystem als Raumöffner
Wenn ich zurückkomme auf das Entwicklungsgespräch für meinen 5-jährigen Sohn, so war das, was mir die Pädagogin erzählt hat und nicht auf der „Entwicklungsschnecke“ angemalt war, viel spannender und aussagekräftiger über die Persönlichkeit meines Kindes als die vordefinierten Kompetenzen innerhalb des Rasters. Ich hörte da, dass mein Sohn der ganzen Gruppe oft Geschichten erzähle und dabei die Fähigkeit besitze, die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen und zu halten. Er schweife zwar manchmal in seiner Erzählung ab und verliere den Faden, aber das störe die Kinder nicht. Sie fänden es trotzdem spannend, wenn er mit genauso viel Begeisterung wie Grammatikfehlern seine Geschichten vorträgt.
Was braucht also ein Kind von uns als Gesellschaft und im Speziellen von unserem Bildungssystem, um seine Potenziale ausreichend gut entfalten zu können? Ich würde sagen:
- genügend unterschiedlichste Möglichkeitsräume, um sich auszuprobieren,
- Einladungen und Begleitung, um diese Möglichkeitsräume zu erkunden, um herauszufinden, ob die möglichen Tätigkeiten darin etwas für mich sind
- Vorbilder und Inspiration, wie es sich anfühlt, wenn jemand von etwas begeistert ist,
- den Rahmen – wie ein Auffangnetz – zum Fehlermachen und Scheitern
- Personen, die als Projektionsfläche oder fest verankerte Pfeiler dienen, damit sich Kinder daran „abstoßen“ können, um zu „neuen Ufern aufzubrechen“, die Liebe und den Respekt, dass jede individuelle Fähigkeit und Begeisterung wertvoll ist, auch wenn die Bezugsperson selbst vielleicht davon gar nichts versteht.
Die Entfaltung des persönlichen Potenzials bedeutet nicht, dass wir uns ständig mit Außergewöhnlichen hervortun müssen.
Und zuallerletzt möchte ich noch einen wichtigen Aspekt einbringen: Die Entfaltung des persönlichen Potenzials bedeutet nicht, dass wir uns ständig mit Außergewöhnlichem hervortun müssen. Das Nutzen des individuellen Potenzials liegt zum Beispiel bei einem Kind in der lustvollen, x-ten Wiederholung eines Spiels oder bei einem Erwachsenen in der aufmerksamen und mit Liebe verrichteten Routine. Wichtig ist dabei, dass es in unserem Leben immer offene Türen gibt, durch die ich neue Möglichkeitsräume betreten kann, um die darin schlummernden Ressourcen und Schätze zu heben.
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