Rezension: Literaturstadt Kitzbühel - Im Schatten von Tourismus und Sport

Buchcover mit Stadtansicht auf Kitzbühel

Im Schatten von Tourismus und Sport

Literaturstadt Kitzbühel 
 

Karl Prieler
Innsbruck, 2021
Universitätsverlag Wagner 
ISBN 978-3-7030-6554-5

 

Interessant schon der Buchbeginn mit einem mehr als kräftigen Zitat von Herbert Rosendorfer (er verbrachte seine spätere Kindheit in Kitzbühel): „In Kitzbühel gilt literarische Betätigung als verwerflich und ist nur entschuldbar, wenn einen ein körperliches Gebrechen daran hindert, Skilehrer zu werden.“ (Offenkundig ist Felix Mitterer schon zehn Jahre vor der Piefke-Saga gedopt worden.)

Gleich am Anfang bedient sich Prieler dieses kleinen Tricks: Er ist schon oft angewandt worden und hat sich in der Regel immer noch bewährt. Um mit der eigenen Meinung nicht ins Haus zu fallen und wohl auch um die Leserschaft damit nicht zu überfallen, leiht man sich eben ein Zitat aus, lässt damit einen Literaten statt seiner sprechen. Deutlich zu spüren ist an dieser Stelle (und nicht allein an dieser), dass Prielers Herz alles eher denn am Schickimicki (das es nun in seiner Heimatstadt – auch – gibt), hängt.

Karl Prieler hat ein Kitzbühelbuch der besonderen Art, der besonders liebevollen und doch auch kritischen Art, vorgelegt. Es ist 2021 von der Uni Innsbruck mit dem Titel „Tirolensie des Monats Oktober“ ausgezeichnet worden. Er liefert ein Buch, das zeigt, wie sich die Literatur in eine Landschaft in differenziertesten Farben hineinschreiben kann, auch wenn das Leitbild dieser touristisch überreizten und wohl auch ausgereizten Gegend, zumindest auf den ersten Blick, keine poetischen Vorzeichen zu tragen scheint – zumindest nicht im Sinn von Paul Celan, der seine Bukovina einmal als das Land, „wo Menschen und Bücher lebten“, beschrieben hat.
 

Kitzbühler Golfplatz im Vordergrund, im Hintergrund der Wilde Kaiser

So nimmt denn Prieler Leser wie Leserin geduldig an der Hand und bietet für eine „secunda vista“ ein Panorama an, das, auch in der Sorgfalt der Recherche, erstaunen macht und Zwischenblicke (Inter-Views/Entre-vues) eröffnet.
Dabei begegnen manch prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Der Rezensent entdeckte gleich drei, zwei schon seit seiner Kindheit wohl bekannt. Es sind dies Erich Kästner und Alma Holgersen, deren „Pietro schreibt dem lieben Gott“ damals ein Herz froh machte. In späteren Jahren kam der Lehrerdichter Hugo Bonatti dazu.

In der Literatenrunde tauchen dann auch Ian Fleming (der Vater der literarischen Figur James Bond), Alphonse de Châteaubriant, Gertrud Fussenegger, Marie Thérèse Kerschbaumer, Felix Mitterer, Herbert Rosendorfer u. a. auf. Es spannt sich ein Bogen mit insgesamt 27 Dichterinnen und Dichtern, die allesamt Kitzbühel verbunden waren oder es noch sind.
Ein stadtkundlicher Ausblick mit Landkarte zu den Schauplätzen rundet das Buch.

Dem Rezensenten als Pädagogen fallen die Passagen, die (a) mit der Tannenberg-Schule und (b) mit Alfred Adler zu tun haben, besonders auf. In pädagogischen Kreisen ist nämlich wenig bekannt, dass es zwischen 1924/25 und 1928/29 in Kitzbühel eine kleine, psychologisch reformpädagogisch orientierte, etwas elitäre Kleinschule gab (familiärer Betrieb mit drei Lehrpersonen und ca. einem Dutzend Schülern*innen, von dem die meisten aus Großbritannien kamen). Sie wurde, erfahren wir, von der Alfred-Adler-Biografin Phyllis Bottome, gemeinsam mit ihrem Mann Ernan Forbes-Dennis, einem schottischen Aristokraten, geleitet. Bottomes Biografie war die erste über Alfred Adler, dieser hatte sie auch in besonderer Weise darum gebeten (Adler lebte ja schon in den USA).

Die nach dem Ansitz Tennerhof genannte Schule war für Sprösslinge aus der eher gehobenen britischen Bürgerschicht eingerichtet. Adler besuchte auch für einige Wochen den Schulbetrieb. Dort, späterhin bis heute ein Hotelbetrieb, lebten campusartig die Jugendlichen, einige auch aus anderen Ländern, zusammen, um Sprachen wie Deutsch, Französisch und Englisch, „to make a stemturn“, zu lernen. Die Betreiberfamilie blieb ein Leben lang mit ihren Zöglingen verbunden. Das Projekt ist nicht zuletzt auf der Folie der friedenspädagogischen Bemühungen nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen. Dass die Geschichte dann andere Wege bestritt, steht auf einem anderen Blatt Papier. 

Ein Blick von der Bärnstatt Kapelle in Richtung Wilder Kaiser

Die Schule war auch eine „Autorenschmiede“ für Nigel Dennis, Ralph Arnold und Peter Fleming. Sie hat literaturgeschichtlich Einkehrschwünge, schulgeschichtlich aber wenig Spuren hinterlassen. Sie entsprach wohl (individual-)psychologisch gewissen Intentionen des in Aberdeen so früh verstorbenen Freud-Schülers und aufrechten Sozialdemokraten Adler, wohl weniger seinen politischen nahe. (Alfred Adler stand im „Roten Wien“ Glöckel’scher Schulreform denn doch eher für die Randständigen und Zu-kurz-Gekommenen.) Was aber das Konzept sympathisch macht, ist der Gedanke des Lernens in Beziehung. „Beziehungs-weise“ (in der Weise der Beziehung) lernen wir auch Sprachen, was erklärt, dass heute eine feindliche Stimmung gegenüber Migranten*innen nicht unbedingt motivationsfördernd für den Deutschunterricht ist.

Die Sozialdemokratie begegnet, auf der Zeitschiene noch früher angesetzt, in dem feinfühlenden Buch nochmals: in der Figur des legendären Arbeiterdichters Petzold (zwischen 1917 und 1923 in Kitzbühel), Freund von Alfons Walde, der ihn gleich mehrmals porträtierte, zum Jahr des Kriegsendes 1918 Gemeinderat in Kitzbühel. Petzold, so erfahren wir aus Prielers Feder, liegt in Kitzbühls Friedhof begraben.

Prieler löst Tektoniken nicht auf. Das heißt, er bleibt geduldig und bescheidet sich. Das gilt nicht nur in der oben angeführten Tektonik Adler und Tannenbergschule, sondern auch in der Tektonik Petzold und seine Witwe, Fluchthelferin für Alphonse de Châteaubriant, dem großen französischen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jhs., ab 1937 glühender Kollaborateur der NS-Ideologie. Châteaubriant, von Hitler 1938 sogar auf Besuch am Berchtesgadener Berghof eingeladen, schämte sich nicht, Hitlers „grenzenlose Güte“ zu preisen (s. S. 35). Sechs Jahre lebt er mit Gabrielle Castelot versteckt und sogar von den französischen Besatzungstruppen unentdeckt, in Kitzbühel (1948 war er in Frankreich zum Tod verurteilt worden, ein internationaler Haftbefehl konnte, weil Frankreichs Paradedichter „unauffindbar“ war, nicht umgesetzt werden). 1945 schon fand das Prominentenpaar Unterschlupf im Grand Hotel. Da wenige Tage später bereits die Amerikaner nach Kitzbühel kommen, gelingt es ihnen, in das nun sicherere Aurach und späterhin herunter in die Nähe vom Schwarzsee zu flüchten. Dass dabei die Witwe Petzolds, aus dem Innsbrucker Großbürgertum stammend, diese schützend-beschützende Rolle spielte, gereicht Kitzbühel (von hier aus wurde die Hilfskette in Gang gesetzt) noch der Umgebung und schon gar nicht der Witwe selbst zur Ehre. Die Hagiografie des dunklen Dichters wollte ihn, im Zuge die Opfer der Nazizeit, aber auch die Anliegen humanistischer Bildung verhöhnend, zu einem Retter eben dieser Bildung, zu einem Retter lateinisch-griechischer Bildungsideale hochstilisieren. Der Beinahe-Zusammenbruch besagter Bildung im Zuge der 68er hat freilich (nicht nur, aber eben auch) mit solchen verkanteten Aspekten zu tun, als – sträflich verkürzt – die Frage auftauchte, was denn Latein und Griechisch dazu beigetragen haben, die Diktaturen Europas zu verhindern.

Aussicht auf das Starthaus des Kitzbühler Hahnenkammrennens, auf die berühmte Streif und ins Tal.

Mit der Hilfe des von Prieler vorgestellten Panoramas wird ein scharfer Spannungsbogen zwischen der Sportaristokratie und der Geschichte der vielzitierten „einfachen Leute“ klar. Manche der Literaten*innen kamen über Irrungen und Wirrungen nach Kitzbühel und blieben, wie erwähnt, verbunden – auch in manchmal nur passageren Ortsgebundenheiten.

Was die Mehrzahl der Dichter und Dichterinnen betrifft, so wird von diesen – und Prieler zeichnet es seismografisch nach – der Skizirkus in und um Kitzbühel ironisch, gallig, mitunter mit leichtem und echt witzigen, mitunter aber recht sarkastisch, schon asthmatisch gewordenem Humor, porträtiert. Stellvertretend seien hier Herbert Rosendorfer, Felix Mitterer und der volkskundliche Dichter bzw. dichtende Volkskundler Hans Haid genannt.

Das Buch lehrt, in den Biografien „Anderer“ (wie wären diese „anders“ als wir, die wir, so scheint es, dann „nicht anders“ sind?) doch auch eigene Lebensgeschichten zu buchstabieren. Denn auch das Lesen der Biografien „Anderer“ funktioniert nur auto-biografisch. Diese Eröffnung zum Partiturlesen, so unterschiedlich Orte und Zeiträume (in ihren Einsetzungen, Verletzungen, Versetzungen und Übersetzungen) auch sein mögen, macht die Stärke des sachkundig und mit Herzblut geschriebenen Buches aus.
 

Peter Stöger
Peter Stöger DDr.

Peter Stöger war Dozent am Institut für Lehrer*innenbildung und Schulforschung an der Universität Innsbruck und Buchautor.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

Kommentar schreiben

Bitte logge dich ein, um einen Kommentar zu schreiben.

Kommentare

Sei der erste, der diesen Artikel kommentiert.

Das könnte dich auch interessieren